Heimatort

Willkommenskultur nach schweizer Art
Kolumne Bödeli-Info vom Juli 2016

Vielen ist nicht bewusst, dass erst im Jahr 2012 entschieden wurde, dass sich die Heimatorte nicht länger an den Sozialleistungen ihrer Bürgerinnen und Bürger beteiligen müssen. Die Übergangsfrist läuft in diesem Jahr ab. Die komplizierten Umlageverfahren sind damit Geschichte. Das heutige Sozialsystem ist deutlich besser und gerechter. Im Kanton Bern ist es Teil des Finanz- und Lastenausgleichs.

Das Prinzip der Unterstützungspflicht durch die Heimatorte hat neben aller Tradition einige negative Seiten :

In der Mitte des 19. Jahrhunderts versuchten einige Gemeinden ihre verarmten heimatberechtigten loszuwerden, indem sie ihnen ein Geschäft anboten: Sie bezahlten ihnen die Reise nach Amerika, wenn sie im Gegenzug auf ihr Bürgerrecht verzichteten. „More paupers from Switzerland – another shipload on the way.” (übersetzt: Mehr arme Leute aus der Schweiz – Eine weitere Schiffsladung ist unterwegs) titelte die New York Times am 3. März 1855. Es wurde bekannt, dass die Aargauische Gemeinde Niederwil (heute Rothrist) 320 ihrer ärmsten Bewohner in die USA schickte. Es dürften um die 330‘000 Schweizerinnen und Schweizer gewesen sein, die zwischen 1850 und 1900 in die USA ausgewandert sind. Darunter waren sehr viele kranke Menschen, arbeitsunfähige und offenbar sogar Kriminelle, die mit Nachdruck „unterstützt“ durch die Heimatgemeinden den Weg in die USA auf sich nahmen. Die meisten von ihnen waren vom Heimatort geförderte oder wegbeförderte Wirtschaftsflüchtlinge.

Während und nach dem zweiten Weltkrieg wollte man verhindern, dass beispielsweise Bewohner aus der Schweizerischen Kolonie Schabo am Schwarzen Meer zurückkehren würden. Einige von ihnen starben in den Kriegswirren, weil die Rückkehrverfahren bewusst verzögert wurden. Die Heimatorte haben sich zum Teil aktiv daran beteiligt.

Auch noch nach dem 2. Weltkrieg war die mit dem schweizer Pass begründete Rückkehrgarantie sehr relativ zu sehen.  Arbeitsfähige  schweizer Staatsbürger mussten einen gültigen Arbeitsvertrag vorweisen bevor ihnen die Rückkehr gestattet wurde.  Eine Reise an den Heimatort war praktisch ausgeschlossen. Man hat sie an der Grenze mit der Begründung der hohen Arbeitslosigkeit in der Schweiz abgewimmelt. Die Erkenntnis in der schweizerischen Heimat nicht willkommen zu sein hat auch Angehörige meiner Familie damals nachhaltig geprägt.

Mein Heimatort liegt in Vacallo oberhalb von Chiasso. Mein Zweig der Familie Martinelli lebt allerdings seit fast 200 Jahren im Seeland. Ich war bereits in Vacallo und habe mir vorgestellt wie sie wohl reagiert hätten, wenn ich in Not geraten und Sozialhilfe an einem Ort hätte beziehen müssen an dem ich noch nie heimisch war und ich nicht mal die Sprache recht beherrsche.

Heimat ist für mich primär dort, wo ich mich selber heimisch fühle. Das mag der Heimatort sein, ist jedoch bei vielen nicht mehr so. Um dem emotionalen Wert des Heimatortes Rechnung zu tragen darf dieser weiterhin im Pass stehen. Seine Bedeutung als soziale Institution hat er verloren.