Wenn wichtige Arzneimittel verschwinden und wer dann verantwortlich ist….

Das Medikament Digoxin wird nur noch selten verwendet – aber es wird noch verwendet und es gibt Situationen in denen es – laut Aussagen von Spezialisten – die einzige Option ist.

Digoxin wurde früher von der Firma Novartis vertrieben. Dann war deren Tochterfirma Sandoz für das Produkt verantwortlich und schliesslich wurde das Dossier an die Firma Medius übertragen.

Diese teilt nun mit, dass sie das Präparat in der Schweiz aus Kostengründen nicht mehr vertreiben werde. Es sei aus diversen Ländern importierbar.
Bereits seit Anfang Juni ist das Präparat nicht mehr lieferbar.
Konsequenz ist, dass es keine schweizerische Zulassungsinhaberin mehr gibt.

Soweit so gut, könnte man meinen. Das Präparat ist weiterhin verfügbar. Das ist jedoch maximal die halbe Wahrheit.

Für all jene Patientinnen und Patienten, die aktuell noch damit eingestellt sind, muss eine Nachfolgelösung gefunden werden, soll die Therapie mit einer anderen, in der Schweiz zugelassenen Wirksubstanz  weitergeführt werden. Das ist mit zusätzlichen Arztbesuchen verbunden und muss kurzfristig erfolgen, da Therapieunterbrüche mit diesem Präparat sofortige Konsequenzen haben können.

Für all jene Patientinnen und Patienten, die auf das Präparat weiterhin angewiesen sind, beginnt jetzt die Odyssee …

Damit das Medikament von der Krankenkasse bezahlt wird, muss ein Kostengutsprachegesuch an den vertrauensärztlichen Dienst der jeweiligen Krankenkasse eingereicht werden. Wenn die Kostengutsprache überhaupt erfolgt, dann oft mit der Aussage, dass nur jener Preis bezahlt wird mit dem das Präparat bisher in der Spezialitätenliste war. Die Differenz darf den Patientinnen und Patienten nicht in Rechnung gestellt werden. Das heisst konkret: die Differenz verbleibt beim Leistungserbringer, der das „Pech“ hat diese Patientinnen und Patienten zu versorgen. Nicht selten folgt eine Ablehnung mit dem Hinweis, dass es Alternativen gäbe, ohne diese jedoch zu nennen. Wie wenn die Antragsstellerin dies nicht schon geprüft hätte. Das Prüfen der Alternativen ist einfacher als seitenlange Gesuche zu stellen ….

In der Schweiz konnten 100 Tabletten der 0,25 mg Dosierung mit 8.80 gegenüber der Krankenkasse abgerechnet werden. Die Tabletten reichen für 3 bis 4 Monate (Tagestherapiekosten rund 10 Rappen).
Der Verkaufspreis für Lenoxin, das entsprechende deutsche Präparat beträgt 17.20 Euro.
Das entsprechende Präparat in Frankreich gibt es nur als 30 er Packung. Umgerechnet beträgt der Verkaufspreis dort 9.96 Euro (für 100 Tabletten)

Beide Produkte sind also teurer als in der Schweiz.
Es liegt auf der Hand, dass hier eine Differenz entsteht, die zudem die entstandenen Zusatzkosten (wie Kostengutsprachegesuch, Importspesen, Risiko etc.) bei weitem nicht deckt.

Es ist möglich, dass es innerhalb von Europa noch andere Länder gibt, in denen die Preise vergleichbar sind wie in der Schweiz. Nur blendet genau das gleich drei Faktoren aus:
1. Die Sprache: Patientinnen und Patienten haben den berechtigten (und gesetzlich festgelegten) Anspruch zu verstehen was auf der Packung steht. Das ist z.B. mit skandinavischen, spanischen, portugiesischen oder ost-europäischen Packungen nicht gegeben.

2. Lieferkosten: die Medikamente müssen in die Schweiz geschickt werden. Das ist auch nicht kostenlos und diese Kosten muss auch „jemand“ bezahlen. D.h. bei einer Kostengutsprache mit dem bisherigen schweizerischen Preis ist nicht mal das Porto gedeckt, geschweige denn die Kosten des Produktes.

3. Verfügbarkeit: ist es denn einfach so gegeben, dass diese Präparate im günstigsten Land innerhalb von Europa auch verfügbar sind ? Nicht selten eben auch nicht. Auch das müsste nach der Idee einiger Krankenkasse in Kauf genommen werden. Die Differenz bleibt dann beim Leistungserbringer. Wie immer.

Jetzt könnte man zum Schluss kommen, dass doch jemand das Medikament zentral in der Schweiz beschaffen und den anderen zur Verfügung stellen könnte.
Das ist theoretisch möglich, nur braucht es dann eine Zulassung für das Produkt in der Schweiz. Ist das Präparat in der Schweiz nicht zugelassen, ist es aufgrund des Heilmittelgesetzes über den Grosshandel nicht verkehrsfähig. Das heisst: jeder Leistungserbringer muss selber importieren.

Ein anderer Punkt kommt noch dazu: Da es sich um ein in der Schweiz nicht (mehr) zugelassenes Produkt handelt übernimmt jene Person, die das Medikament verschreibt und /oder abgibt die volle haftungsrechtliche Verantwortung für das Produkt. Es handelt sich nicht nur um einen off-label use, sondern es geht um die Behandlung mit einem in der Schweiz nicht (mehr) zugelassenen Produkt. Die Haftung liegt also voll und ganz bei den Leistungserbringern respektive beim Importeur. Es kann zwar im Falle eines Falles die Firma im Ausland belangt werden. Jedoch eben auch da über den Leistungserbringer. Zudem muss der Importeur sicherstellen, dass die Prinzipien der Pharmakovigilanz eingehalten werden. Das heisst, dass sichergestellt wird, dass ein Rückzug einer Charge des betreffenden Produktes im Ausland auch in der Schweiz vollzogen werden kann.
Für die Firma ist das Problem gelöst, die Verantwortung liegt bei den Leistungserbringern.

Alternativ wäre es auch möglich Kapseln in einer Apotheke herstellen zu lassen via Magistralrezeptur.
Auch hier: der Amtstarif der sogenannten „Arzneimittelliste mit Tarif“ wurde letztmals im Jahr 1996 (!) grundlegend revidiert. Mittlerweile gibt es das Heilmittelgesetz (Einführung 2002) und zwei Revisionen davon (2010 und 2018) die die Bedingungen für die Herstellung deutlich verändert haben. Diese führen zu deutlich höheren Kosten, die vom Amtstarif – notabene verfügt von der gleichen Behörde, die für die Heilmittelgesetzrevision verantwortlich ist …. – bei Weitem nicht gedeckt sind. Es wäre zwar eine Alternative, die zudem ohne Kostengutsprache funktioniert, kommt aber deutlich teurer.
Nach aktuellem Tarif berechnet käme eine Kapsel auf ca. einen Franken. Effektiv kostendeckend wäre ca. 1 Franken 50, also 15mal mehr als die Tablette bisher kostet. Noch wenn: es selber herzustellen ist wegen der geringen therapeutischen Breite und dem sehr kleinen Wirkstoffgehalt heikel. Auch hier: die volle Verantwortung für das Produkt liegt bei der herstellenden Apotheke. D.h. noch einmal wird Risiko beim Leistungserbringer deponiert und dann noch zusätzlich reklamiert, dass es zu teuer sei….

Das Beispiel zeigt verschiedene wunde Punkte im aktuellen System:

1. Das Arzneimittelsortiment in der Schweiz wird im Wesentlichen durch die Zulassungsinhaber bestimmt. Was nicht rentiert, wird eliminiert. Niemand ist verpflichtet ein unrentables Produkt im Markt zu halten. Das ist an und für sich vom Prinzip her ok. Nur gibt es eben Grenzzonen:
Präparate, die zwar relativ selten gebraucht werden, jedoch nach wie vor ihren therapeutischen Platz haben, verschwinden trotzdem vom schweizerischen Markt mit allen vorher beschriebenen Konsequenzen. Dabei geht es nicht um obsolete Präparate, sondern nicht selten um Präparate, die in international als Standard anerkannt sind. So zum Beispiel ebenfalls aktuell der Cefpodoxim Sirup, das orale Antibiotikum der 1. Wahl für Säuglinge und Kleinkinder mit febriler Harnwegsinfektion (Pyelonephritis).

Will heissen: irgendjemand muss festlegen was ein wichtiges Produkt ist. Der bisher verwendete Begriff der „Lebensnotwendigkeit“ greift deutlich zu kurz. Genau dort scheitert die bisherige Versorgungspolitik. Ganz am Anfang. Dort wo eben definiert wird, was wesentlich ist und was nicht. Und dort liegt das Hauptdilemma. Der Bund kann nur via Landesversorgungsgesetz (darum wird der Begriff lebensnotwendig gebraucht). Deshalb wären an sich die Kantone zuständig. Die haben jedoch einerseits null Problembewusstsein andererseits fühlen sie sich auch nicht zuständig. Toll …. Die heissen Kartoffeln werden seit Jahren hin und her geschoben. Leidtragende sind letztendlich Patientinnen und Patienten respektive jene, die sie eigentlich nach dem Stand der Lehre behandeln respektive versorgen sollten.

2. ein Nachfolgelieferant wird kaum zu finden sein. Er kennt das Preisniveau und muss zudem ein vollständig neues Dossier einreichen. Ohne Perspektive einer Anpassung, da es dem BAG ganz offensichtlich egal ist ob das Produkt verfügbar ist oder nicht. Und letztendlich : wer genau würde jetzt aufgrund von was genau so einen Nachfolgehersteller suchen und auf seinen grenzenlosen Idealismus setzen, damit er die Vorinvestition der Erstellung eines Registrierungsdossiers macht, dann bem BAG einen Antrag einreicht und damit potentiell auf die Nase fällt. Man könnte ja auch eine öffentliche Ausschreibung machen. Nur auch hier: wer genau für die Versorgung der Schweiz ?

3. Wenn dann mal ein solches Produkt verschwindet stehen die Leistungserbringer alleine da. Sie dürften Gesuche stellen und sind auf den Goodwill einzelner Kassen angewiesen. Sie bleiben letztendlich auch auf dem Zusatzaufwand und den Zusatzkosten sitzen. Nicht dass das Krankenkassen, Behörden inklusive Preisüberwacher nicht bekannt wäre. Seit Jahren wird darauf hingewiesen. Zumindest von meiner Seite kann ich festhalten, dass ich das seit fast 20 Jahren tue. Passieren tut gar nichts. Ganz im Gegenteil. Mit verschiedenen Massnahmen wird dazu beigetragen, dass sich die Versorgungssituation „hausgemacht“, d.h. in der Schweiz verursacht, noch zusätzlich verschlechtert. Wenn man sich von der Industrie nicht erpressen lassen will, dann braucht es nun mal ein Gegenkonzept. Und das fällt nicht vom Himmel. Da nützen Schlagworte wenig. Im Gegenteil.

Wer nach wie vor Fan holländischer Preissysteme ist und immer noch behauptet Preise hätten damit nichts zu tun, darf sich gerne mit diesem Lancet-Artikel beschäftigen:

https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(22)01421-0/fulltext

4. Die Diskussion über teure Medikamente wird im Einheitsbrei geführt. D.h. grundsätzlich ist alles zu teuer. Es wird bunt gemischt zwischen den neueren Therapien, deren Monatstherapiekosten die Grössenordnung eines Mittelklasseautos einnehmen und solchen, die weniger als ein Stück Zucker kosten. Eine differenzierte Diskussion in diesem Thema scheint im Moment gar nicht möglich zu sein. All jene, die vor einer Verknappung warnen, werden als Pfründe-Verteidiger in eine Ecke gestellt. Genau so geht es den präsentierten Lösungsvorschlägen. Die werden als Lobbyvorschläge verschrien.
In diesem Zusammenhang stelle ich fest, dass wir uns ziemlich hemmungslos diesem Trauerspiel hingeben und alle Versorgungsprobleme via Patientinnen und Patienten austragen und in grossen Lettern nur noch von Kosten sprechen ohne dabei zu beachten, dass es durchaus diskutable Randzonen gibt. Insbesondere auf Seiten des BAG (Krankenversicherung) und einiger Krankenversicherer scheint jeglicher Mut zu fehlen, hinzustehen und effektiv nachhaltige Lösung anstreben. Der eine Krankenkassenverband verweigert dazu jegliche Diskussion(Cufu diskutiert – immerhin). Zusammen mit dem Preisüberwacher posaunen sie grossartig die Geschichte der zu hohen Preise, sind dann aber nicht bereit Mitverantwortung zu übernehmen, wenn das Konzept der Preissenkungen scheitert und genau das eintritt was seit Jahren prophezeit wird. Schön, wenn dann andere verantwortlich sind und das ganze ausbaden dürfen ….

Letztendlich geht es darum, dass Patientinnen und Patienten mit den richtigen Medikamenten versorgt werden können. Zumindest habe ich das bisher gemeint.

Man mag mir vorwerfen, dass ich hier nicht darstelle wie es denn gehen müsste. Das habe ich jedoch schon zigfach..,, nachzulesen ebenfalls in meinem Blog.