Es begann vor 10 Jahren mit der Schlagzeile im Tagesanzeiger :
Apotheker provoziert Pharmabranche
der Artikel erschien am 20. Oktober 2015 er ist immer noch Online abrufbar (Stand 21.10.2025)
Erstaunlich, wie sich die Wahrnehmungen in zehn Jahren verschieben können. Früher war ich der grosse Provokateur – heute werde ich von vielen der Industrie zugerechnet.
Dabei bin ich derselbe geblieben: Mein Ziel war und ist die bestmögliche Versorgung von Patientinnen und Patienten.
Zum aktuellen Anlass habe ich die zehn Jahre Drugshortage.ch in einem kurzen – vielleicht etwas selbstbewussten – Rückblick zusammengefasst.
10 Jahre Drugshortage.ch – Ein Rückblick
Ausgangslage 2015
Im Jahr 2015 wurde Drugshortage.ch lanciert – nahezu zeitgleich mit der nationalen Meldestelle für lebenswichtige Arzneimittel des Bundesamtes für wirtschaftliche Landesversorgung.
Während sich die Meldestelle gemäss der Vorgabe im Landesversorgungsgesetz auf «lebensnotwendige» Präparate fokussieren muss, blieb aus Sicht der medizinischen Praxis eine Lücke bestehen:
„Die therapeutische Relevanz und die konkreten Auswirkungen von Lieferengpässen im Versorgungsalltag insbesondere bei chronisch kranken Patient:innen werden in der Meldeplattform des Bundes kaum berücksichtigt. So fehlen insbesondere wichtige Medikamente bei denen die Patientinnen sofort einen Effekt spüren, wenn sie sie nicht einnehmen (z.B. Antiepileptika, Psychopharmaka, Parkinsonmedikamente, Hormonersatztherapien).“
Vor diesem Hintergrund entstand Drugshortage.ch als unabhängige Informationsplattform, die einen vollständigen Überblick über fehlende verschreibungspflichtige Medikamente bietet. Im Zentrum stehen Arzneimittel, die für die medizinische Grundversorgung wesentlich sind und/oder von der obligatorischen Krankenversicherung vergütet werden. Nicht verschreibungspflichtige Präparate werden nur berücksichtigt, wenn sie als gleichwertiger Ersatz für ein verschreibungspflichtiges Medikament gelten und somit für die Versorgung relevant sind.
Die Webseite wird von der Martinelli Consulting GmbH betrieben. Diese Gesellschaft wurde gegründet, um den Gründer Enea Martinelli vor möglichen persönlichen rechtlichen Angriffen zu schützen, die ihm beim Aufbau der Plattform von einzelnen Firmen angedroht worden waren. Die Gründung schuf die Grundlage, um die Plattform unabhängig zu betreiben und die Informationsfreiheit dauerhaft zu sichern – ein entscheidender Schritt, um Transparenz langfristig abzusichern.
Finanziert wurde Drugshortage.ch ursprünglich aus eigenen Mitteln. Heute entrichten meldende Firmen eine moderate Jahresgebühr zur Deckung der Betriebskosten; zusätzlich wurde mit kommerziellen Anbietern eine Lizenzgebühr für die Datennutzung vereinbart. Das Projekt verfolgt keinerlei kommerzielle Ziele und soll auch künftig unabhängig bleiben – zugleich gilt, dass kommerzielle Anbieter die Daten nicht kostenlos übernehmen können.
Zielsetzung
- Transparenz schaffen bei der Medikamentenverfügbarkeit
- Frühwarnsystem für Apotheken und Ärzt:innen
- Unabhängige Datengrundlage für Fachpersonen, Politik und Forschung
- Orientierungshilfe für Unternehmen, um Engpässe besser zu managen
Wirkung und Bedeutung
Seit zehn Jahren liefert Drugshortage.ch aktuelle Informationen zu Lieferengpässen von Arzneimitteln.
Dank dieser Transparenz können Fachpersonen frühzeitig reagieren:
- Verfügbarkeit von Alternativen prüfen
- Alternative Therapien prüfen
- Patient:innen informieren
- Beschaffungs- und Lagerstrategien anpassen
Pharmaunternehmen erhalten dadurch wertvolle Hinweise zu Marktentwicklungen und können ihre internen Prozesse verbessern. So trägt die Plattform massgeblich zur Risikominimierung und Versorgungssicherheit im Schweizer Gesundheitssystem bei. Sie minimiert zudem die Ineffizienzen, die rund um Lieferengpässe im Gesundheitssystem entstehen.
„Transparenz ist keine Kritik – sie ist die Grundlage, um Probleme überhaupt lösen zu können.“
Nutzung und Vernetzung
Drugshortage.ch hat sich in den letzten Jahren als verlässliche Referenzquelle etabliert:
- Fachkreise verknüpfen die Daten mit anderen Systemen, so zum Beispiel SwissPedDose, Tableau de ruptures Pharma Genève et HUG, Medicodex, Docinside Weitere Zusammenarbeiten mit Datenanbietern stehen kurz vor der Umsetzung.
- Forschung und Wissenschaft nutzen sie als Datenbasis zur Analyse von Ursachen und Folgen von Engpässen.
- Medien und Politik greifen auf die Informationen zurück, um die Diskussion zur Arzneimittelversorgung faktenbasiert zu führen.
Die Plattform ist für Gesundheitsfachpersonen und Patient:innen kostenlos zugänglich und leistet damit einen wichtigen Beitrag zu einer informierten und effizienten Arzneimittelversorgung.
Medienresonanz und öffentliche Diskussion bei der Lancierung der Plattform
Ein Beispiel für die öffentliche Aufmerksamkeit ist der Tages-Anzeiger-Artikel
„Apotheker provoziert Pharmabranche“ (2015).
Darin beschreibt Enea Martinelli, Chefapotheker der Spitalgruppe Frutigen-Meiringen-Interlaken, seine Motivation, Drugshortage.ch zu gründen:
„Er habe die Nase gestrichen voll“, schrieb der Artikel – ausgelöst durch wiederkehrende Engpässe und mangelnde Transparenz in der Branche.
Weil viele Pharmaunternehmen Engpässe nicht oder nur zögerlich kommunizierten, entschloss sich Martinelli, eine eigene Meldeplattform aufzubauen.
Die Initiative stiess zunächst auf Skepsis, insbesondere seitens der Industrie. Doch sie machte sichtbar, wie dringend Bedarf an offener Kommunikation bestand.
„Eigentlich würde ich mir wünschen, dass die Industrie die Lieferprobleme von sich aus meldet. Da viele Unternehmen dies nicht tun, ist die Plattform dringend nötig.“
– Enea Martinelli, im Tages-Anzeiger, 2015
Apotheker provoziert Pharmabranche | Tages-Anzeiger (Online Version).
Die Berichterstattung trug dazu bei, das Thema Lieferengpässe dauerhaft auf die gesundheitspolitische Agenda zu setzen und die Bedeutung von Transparenz und Kooperation zu unterstreichen.
Heute wird die Plattform in weiten Kreisen der Industrie nicht mehr als Provokation, sondern als Hilfsmittel und Informationsplattform geschätzt und für eigene Publikationen genutzt.
Auch weite Kreise der Gesundheitsfachpersonen und Patientinnenorganisationen interessieren sich für das Thema.-Davon zeugen zum Beispiel zwei Podcasts aus dem aktuellen Jahr:
Globale Medikamentenknappheit | The health horizon
Ausblick
Nach zehn Jahren erfolgreichem Betrieb ist Drugshortage.ch ein fester Bestandteil der Schweizer Gesundheitslandschaft.
Angesichts globaler Lieferketten und wachsender Abhängigkeiten bleibt die Plattform ein zentrales Instrument, um Versorgungssicherheit, Planung und Kommunikation zu stärken – im Dienst von Fachpersonen, Patient:innen und dem Gesundheitssystem als Ganzem.
„Was als Initiative aus der Praxis begann, ist heute ein unverzichtbares Werkzeug für Transparenz und Versorgungssicherheit in der Schweiz.“
In vielen Ländern ist die Führung solcher Plattformen eine staatliche Aufgabe. Ein Beispiel bietet PharmaStatut – L’application en ligne pour vérifier la disponibilité des médicaments, eine staatliche Plattform, die die Verfügbarkeit sowohl von Human- als auch Tierarzneimitteln transparent macht.
Dort können sich auch Patientinnen und Patienten direkt informieren. Zudem sind die Daten digital in die Systeme der Leistungserbringer integrierbar und stehen somit am Ort der Entscheidung zur Verfügung.
Drugshortage.ch verfolgt ausdrücklich nicht das Ziel, die künftige nationale Plattform zu sein.
Die Information über die Verfügbarkeit wichtiger Arzneimittel ist im Grunde eine staatliche Aufgabe.
Wesentlich ist dabei, dass die Daten umfassend, digital nutzbar und historisiert und ohne kommerziellen Zweck bereitgestellt werden.
Nur so lassen sich Ineffizienzen in der Patientenversorgung vermeiden und eine solide Versorgungsforschung zur Prävention bzw. Minimierung der Auswirkungen von Lieferengpässen ermöglichen. Wenn dies erreicht wird, so wird Drugshortage.ch den Betrieb einstellen.
Die aktuell geplante Neuausrichtung der offiziellen Meldeplattform des Bundesamtes für wirtschaftliche Landesversorgung kommt diesem Anliegen zwar teilweise entgegen, dennoch bestehen weiterhin mehrere Lücken:
- Die Liste der zu meldenden Wirkstoffe bleibt nach wie vor eingeschränkt.
- Die Datenverfügbarkeit ist begrenzt, insbesondere was die Integration in digitale Systeme von Leistungserbringer:innen betrifft.
„Die bestehenden staatlichen Systeme sind heute vor allem auf die Logistik von «lebensnotwendigen» Arzneimitteln im Rahmen der Landesversorgung ausgerichtet.
Würde jedoch die Patient:innenversorgung und damit der therapeutische Nutzen eines Medikaments ins Zentrum gestellt, müssten diese Systeme grundlegend anders aufgebaut sein.“
Darüber hinaus klassieren viele Staaten ihre Medikamente nach therapeutischem Stellenwert.
So führt beispielsweise auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine List of Essential Medicines, die deutlich breiter gefasst ist als die schweizerische BWL-Liste, insbesondere weil sie den therapeutischen Nutzen in den Vordergrund stellt.
Auf dieser Basis haben Länder wie die Niederlande eigene Listen der „wichtigen Medikamente“ entwickelt.
Auch Frankreich, Norwegen, Finnland und Schweden führen nationale Arzneimittellisten, die sich an lokalen therapeutischen Prinzipien orientieren. In der Schweiz wurde eine solche Arbeit bislang nicht vorgenommen, da keine klare Zuständigkeit dafür besteht.
Dies erschwert eine übergreifende Bewertung der therapeutischen Relevanz und die gezielte Planung der Versorgungssicherheit. Aktuell sind nur etwa 25% der als Lieferengpass gemeldeten Wirkstoffe auf der Liste des BWL verzeichnet.