Versorgung mit Arzneimitteln – ein System auf der Kippe

Essay publiziert in der Schweizerischen Ärztezeitung 21.06.2023

In der Schweiz entscheiden in erster Linie die Pharmafirmen darüber, welche medikamentösen Therapien hierzulande zur Verfügung stehen. Dass diese Philosophie nicht aufgehen kann, haben die Spitäler schon seit Anfang der 2000ender Jahre erfahren, als viele kritische Arzneimittel vom schweizerischen Markt verschwunden sind. Wäre das Heilmittelgesetz im Jahr 2010 nicht grundlegend revidiert worden, wäre die Versorgung spätestens während der Pandemie zusammengebrochen.

Dass Gleiches auch im ambulanten Markt droht, da sich der Markt stark verändert, wollte man lange nicht hören.
Insbesondere neuere Arzneimittel gegen Volkskrankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck oder psychiatrische Leiden haben bis vor wenigen Jahren dominiert. Die Innovationskraft der pharmazeutischen Industrie ist ungebrochen. Nur fokussiert diese heute stärker auf gezielte Therapien bei Krebsleiden, bei immunologischen und bei seltenen oder nach wie vor unbehandelbaren Krankheiten. Innovationen gehören heute in der Regel in den Bereich der hochteuren Therapien.
Im groben Kontrast dazu stehen die «alten» Präparate. Verlieren diese das Patent, werden sie auslizenziert und dem allgemeinen Markt übergeben. Rentieren sie nicht mehr, dann werden sie nicht mehr vertrieben. Die Strategien der innovativen Firmen sehen alte Präparate nicht vor. Zum Beispiel werden Präparate wie Valium, Bactrim oder Dormicum schon lange nicht mehr von Roche, sondern durch eher unbekannte Firmen wie Euromedica, Atnahs oder CPS Cito Pharma vertrieben. Die gleiche Entwicklung ist bei fast allen Originalherstellern festzustellen.
Andere Firmen lagern alle alten Präparate in neue Firmen aus – wie Pfizer an Viatris oder MSD an Organon. Auch diese neuen Firmen gehen an die Börse.
Diese Entwicklung hat sich in den vergangenen vier Jahren stark beschleunigt.
Jene Firmen, die die Präparate übernehmen, schwimmen im gleichen Teich wie die Generikahersteller und haben den kleinen Vorteil der Sicherung der Markenrechte des Originals und allenfalls des Registrierungsdossiers. Der Rest ist überall gleich. Alle Firmen müssen sich die Wirkstoffe auf dem Weltmarkt beschaffen oder eigene Produktionsstätten aufbauen. Bei Spin-offs bleiben die bisherigen Produktionsstätten erhalten. Die Lieferketten werden optimiert. Firmen, die noch eine eigene Produktion haben, werden spätestens dann eine Alternative suchen, wenn sie investieren müssten. Ganz wenige Firmen sind philanthropisch eingestellt – es gibt sie noch. Personelle Wechsel in diesen Unternehmen können allerdings zu Richtungswechseln führen. Rentabilität ist oft die Priorität und die einzelnen Medikamente respektive deren Einsatz in der Therapie verlieren ihren Stellenwert.
Zwar ist der Standard für die Produkte bezüglich der Qualität überall gleich und wird auch international kontrolliert. Die Rahmenbedingungen könnten jedoch unterschiedlicher nicht sein. Wirkstoffproduktion ist energieintensiv, ist unkontrolliert eine grosse Belastung für die Umwelt und oft sind die Arbeitsbedingungen in asiatischen Ländern nicht besonders gut.
Wer in diesem Umfeld in einem europäischen Land in eine Produktionsstätte investieren muss, überlegt es sich zweimal. Der Wettbewerb und die Regulierungen bevorzugen sie nicht, genauso wenig wie Hersteller, die «Multisourcing» betrieben, ihre Lieferketten also grundsätzlich auf Resilienz auslegen. Der günstigste Anbieter setzt den Preis, alle anderen müssen folgen. Ob die Versorgung damit gesichert ist, ist egal.
Je grösser die Rendite sein muss, desto kleiner und fokussierter wird das Angebot. Die Reduktion geht zu Lasten der «unrentablen» Wirkstoffe wie Antibiotika oder der aufwändigeren Randformen, wie jener für Kinder, für die Palliativmedizin oder für Spitalpräparate. Diese werden verdrängt zu Gunsten von Medikamenten wie Biosimilars, die eine grössere Rendite abwerfen als es beispielsweise Parkinsonmedikamente tun.
Eine amerikanische Studie hat kürzlich den Weltmarkt von patentfreien Wirkstoffen untersucht und festgestellt, dass es für einen Drittel der Wirkstoffe weltweit gerade mal einen Hersteller gibt1. Für einen weiteren Drittel gibt es zwei bis drei Hersteller und für einen weiteren Drittel vier oder mehr.  Je länger der Patentablauf zurückliegt, desto weniger Hersteller gibt es. Rund 10% der Produktionsstätten haben zudem in den vergangenen fünf Jahren von der FDA einen Warning-Letter erhalten. Das heisst konkret: es muss investiert werden, sonst wird der Firma die Bewilligung entzogen, unabhängig vom Stellenwert des Wirkstoffs in der Therapie. Auch dann, wenn sie die Einzigen Produzierenden weltweit sind.
Freilich gibt es noch Hersteller von Wirkstoffen in Europa, insbesondere in Italien. Die Schweiz kommt in der bereits erwähnten amerikanischen Studie gar nicht vor. Europäische Werke laufen rund um die Uhr oder sie rentieren nicht. Das heisst dann auch: wenn ein anderer Hersteller ausfällt, gibt es keine Reaktionsmöglichkeiten, insbesondere wenn die asiatische Konkurrenz einen hohen Marktanteil hat.
Ganz aktuell kommen Lieferschwierigkeiten bei der Verarbeitung zum verwendungsfertig verpackten Medikament dazu. So ist der Preis für Pharmaglas wegen des Krieges in der Ukraine stark gestiegen. Die Verfügbarkeit von Plastikbehältern ist eingeschränkt, ja sogar Karton ist ein knappes Gut, Energiekosten explodieren, Fachkräfte sind knapp, einige Hilfsstoffe sind beschränkt lieferbar. Also was macht man dann als Firma? Entweder eliminiert man ein unrentables Produkt ganz oder man setzt auf jene, bei denen die Rendite am grössten ist. So dreht sich die Spirale weiter. In Deutschland hat sich im Herbst 2022 der zweitletzte Hersteller von Paracetamol-Sirup aus dem Markt zurückgezogen, so dass die ganze Versorgung nur noch von einem einzigen Anbieter abhängig ist. Zehn Jahre zuvor waren es noch zwölf Anbieter. In der Schweiz gibt es zwei Anbieter, der eine kann allerdings seit Monaten nicht liefern.  Nur noch ein Hauptanbieter übrig | PZ – Pharmazeutische Zeitung (pharmazeutische-zeitung.de)

Jetzt mag man vom Büro in Solothurn, von der Einsteinstrasse in Bern oder vom Liebefeld aus sagen, dass das eine globale Entwicklung sei, die ja maximal einen indirekten Bezug zur Schweiz habe. Machen könne man eh nichts, ausser mitzuschwimmen in dieser Entwicklung und davon zu profitieren.

Ganz so einfach ist es allerdings nicht. Es wäre falsch zu behaupten, dass in der Versorgung der schweizerischen Bevölkerung der Preis keine Rolle spielt. Ebenso falsch wäre die pauschale Behauptung, dass allein der Preis die Lösung aller Probleme sei. Auch die Aussage, dass andere Länder auch Lieferschwierigkeiten haben, der Preis also per se keine Rolle spielen könne, ist bei genauerer Betrachtung höchstens eminenz-basierte Behauptung. Zum Vergleich: Ein einzelner Schneefall im Mai lässt auch keine Rückschlüsse auf die Klimaveränderung zu.
Wird ein Gut knapp, werden die Märkte mit der höchsten Renditeaussicht bevorzugt bedient.
Ist die Nachfrage gross und das Angebot klein, dann steigt der Preis. Wird das Angebot knapp, werden jene Länder bevorzugt versorgt, in denen sich aufgrund der gegebenen Umstände noch Geld verdienen lässt: Deckt der staatlich verordnete Preis die Kosten, dann gibt es das Präparat. Genau das sehen wir im Moment mit einfachen Substanzen wie beispielsweise Ibuprofen, Paracetamol oder Amoxicillin.

1 Socal M.P., Ahn K., Greene J.A., Anderson G.F. (2023) Competition and vulnerabilities in the global supply chain for US Generic Active Pharmaceutical Ingredients, Health Affairs, 42; 3 

In der Schweiz war die Versorgung mit Paracetamol-Sirup kaum eingeschränkt, während Länder wie Frankreich oder Deutschland grosse Probleme hatten. Beim Amoxicillin war der weltweite Bedarf so gross, dass auch der Preisunterschied kaum eine Rolle spielte. Beim Ibuprofen-Saft ist es ebenso. Wenn einer zur Verfügung steht, dann solch ein Sirup, der keinen administrierten Preis hat, bei dem die Preisgestaltung also frei ist.
In der Schweiz kommt eine entscheidende Komponente dazu, die das Problem verschärft: die Grösse des Marktes. Wir haben rund acht Millionen potenzielle Patienten. Je «kleiner» die Krankheit, desto weniger potenzielle Kunden gibt es für das Medikament. Das führt zu einem eingeschränkten Angebot. Viele patentfreie Originale haben in der Schweiz keine generische Alternative. Nicht weil sie wenig gebraucht würden, sondern schlicht und einfach, weil der Markt für mehrere Anbieter zu klein ist. Das gilt selbstredend auch für die verschiedenen Arzneiformen. Zäpfchen bringt man nun mal in keine Vene. Ein Wirkstoff ist noch keine Arzneiform.

Die Philosophie, dass allein die Zulassungsinhaber die Möglichkeiten der Arzneimitteltherapie bestimmen, ist zu hinterfragen.
Die bisherigen Definitionen des Bundesamts für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) für die Einschätzung der Wichtigkeit von Arzneimitteln sind nicht geeignet, da die Problematik weit über den Auftrag via Landesversorgungsgesetz hinaus geht.
Kantone können allerdings kaum einen Beitrag zur besseren Versorgung leisten, da sie keine Möglichkeiten haben, die relevanten Rahmenbedingungen zu verändern und durchzusetzen.
Es muss endlich jemand definieren, was für die Therapie von Erkrankten wichtig ist. Oder wollen wir ernsthaft behaupten, dass es uns egal ist, wenn uns zum Beispiel Vitamin-K-Ampullen oder Parkinsonmedikamente fehlen, weil niemand mehr bereit ist, ein Präparat im Markt zu halten?
«Public-private Partnership», also die Zusammenarbeit von öffentlicher Hand und privaten Unternehmen, ist ein möglicher Ansatz. Und der benötigt Führung durch den Bund. Deshalb braucht es zwingend eine Bundeskompetenz und ein Konzept, das die Versorgung nachhaltig stärkt.  Die adäquate Therapie von Patientinnen und Patienten darf nicht zum Spielball zwischen Behörden und Industrie werden und via Abladen der Verantwortung allein an die Leistungserbringenden delegiert werden. Was die Behörden bisher gemacht haben, ist einzig Symptombekämpfung. Und auch die erst, als die Situation zu eskalieren drohte.