Staatsversagen

Kolumne Bödeli-Info Nov/Dez 2018

Staatsversagen

Ein Modewort unserer Zeit

Jeder Staat macht Fehler. Ganz entscheidend jedoch ist, ob unsere Demokratie die Fähigkeit hat, aus den Fehlern zu lernen, und ob es uns gelingt, die Probleme als Gemeinschaft zu lösen.

Es ging uns in der Schweiz noch nie so gut wie heute. Deshalb mutet es sehr seltsam an, wie Rechte und Linke unseren Staat schlechtreden. Ein perfektes System gibt es nicht – nirgendwo. Es gibt immer Möglichkeiten, es zu verbessern. Aber man muss dazu bereit sein. Mit der gegenseitigen Blockade gelingt es kaum, aktuelle Probleme zu lösen; das wird dann am Schluss „Staatsversagen“ genannt. Das Staatsversagen ist mittlerweile zum Modebegriff geworden für alles, was nicht optimal funktioniert. Jeder meint an sich etwas anderes, aber eigentlich meinen alle das Gleiche: Der Staat versagt, wenn er nicht genau das macht, was ich mir vorstelle. «Jetzt muss man nicht mehr Kompromisse suchen, sondern zeigen, wo es lang geht; die haben lange genug gewurstelt» heisst das dann am Stammtisch. Selbstverständlich macht jeder Staat Fehler, manchmal auch schlimme. Und selbstverständlich gibt es Probleme bei den Finanzen, bei der sozialen Wohnfahrt, im Asylwesen etc.
Ganz entscheidend jedoch ist, ob unsere Demokratie die Fähigkeit hat, aus den Fehlern zu lernen, und ob es und gelingt, die Probleme als Gemeinschaft zu lösen. Dazu braucht es eine Wertebasis, und die ist in unseren Breitengraden nach wie vor die Vernunft, die Aufklärung sowie die Wissenschaft. Dank dieser Basis leben wir heute länger, gesünder, glücklicher, friedlicher und wohlhabender denn je. Dem Hass, dem Populismus und der Wissenschaftsfeindlichkeit, den Verschwörungstheoretikern dieser Welt gilt es entgegenzutreten. Fakten sollen weiterhin zählen statt Mythen oder Gerüchte. Lösungen sollen über eine sachlich fundierte Diskussion und Argumente gefunden werden und nicht über populistische Schlagworte.
Ist es nicht so, dass häufig als Beweis für das Staatsversagen der Umstand herangezogen wird, dass es Fehler überhaupt gibt? Die Anspruchshaltung an den Staat und die Regierung ist mittlerweile so, dass der Staat alles lösen oder schon gelöst haben muss, bevor das Problem überhaupt entsteht. Laut Joachim Käppner, einem Kommentator der Süddeutschen Zeitung, hat das Wort Staatsversagen seinen Ursprung in den Diktaturen früherer Zeiten, in deren Systemen vorgegeben wurde, was zu akzeptieren ist. Solche Systeme gibt es nach wie vor, und sie sind sie wieder auf dem Vormarsch. Demokratien werden faktisch aufgelöst und die Meinung eines obersten Staatsführers als sakrosankt erklärt. Es gibt solche Beispiele gar nicht weit von uns weg.
Das ist die Rückkehr in einen Zustand, bei dem die gewonnene Freiheit nicht genutzt wird, sondern der Staat gefälligst alle Bedürfnisse erfüllen soll. Das eigene Hirn wird am Eingang abgegeben. Aber der Staat ist keine Fürsorgeanstalt, sondern eine kollektive Einrichtung. Das demokratische Gemeinwesen ist ein freiheitliches Projekt, an dem wir teilhaben und nicht nur davon profitieren, sondern auch unseren Teil zum Gelingen beitragen müssen – und sei es nur mit dem Stimmzettel. Die Stimmbeteiligung von im Schnitt deutlich unter 50% bei Abstimmungen, und in unserer Region nicht einmal 30% bei Wahlen, lässt tief blicken.
Das Staatsversagen als Schuldigen aller Missstände heranzuziehen, ist überheblich und letztendlich Ausdruck eigener Faulheit. Zudem werden die Errungenschaften der Freiheit damit sehr geringgeschätzt. Die Demokratie muss aus der Defensive herauskommen – und das muss sie je länger je mehr und je deutlicher. Ich fordere deshalb eine Mindestquote an Stimmbeteiligung einzuführen, damit ein Resultat überhaupt als gültig erklärt wird. Eine Hürde von 50% ist in vielen Ländern üblich.