Offener Brief an die Nationalrätinnen und Nationalräte betreffend Referenzpreissystem

25. Oktober 2020

Ich schreibe Ihnen in meiner Eigenschaft als Betreiber der Webseite www.drugshortage.ch und langjähriger Experte im Gebiet der Arzneimittelversorgung.

„First do no Harm“ (primum nihil nocere) ist der oberste Leitspruch in der Medizin. Bei den Diskussionen rund um das Referenzpreissystem bekomme ich den Eindruck, dass der oberste Leitspruch auf politischer Ebene „First cause no costs“ ist.

Personen, die sich gegen das Referenzpreissystem aussprechen werden als Pfründenverteidiger klassiert. Medizinische Argumente gelten kaum etwas. Ich verdiene kein Geld an Medikamenten – im Gegenteil. Ich bin unter anderem im Spital angestellt, um günstiger einzukaufen. Deshalb ist meine Position bezüglich der wirtschaftlichen Interessen neutral. Meine Kernaufgabe ist die Patientenversorgung und die Prozessoptimierung.

In den letzten Tagen ist in der Fachzeitschrift Health Policy ein Artikel erschienen, der die Versorgungslage und die Massnahmen der verschiedenen Länder sehr aktuell beleuchtet. https://reader.elsevier.com/reader/sd/pii/S0168851020302256?token=EA3AEB53FE286357D1F640B 1500053C4A58F190DE0A55B040632252284ED7133048070387C42FC3030BE4B992EFD7584

Wenn ein Referenzpreissystem eingeführt werden soll, dann müssen die Rahmenbedingungen dafür stimmen. Aktuell stimmen sie überhaupt nicht. Der im Minderheitsantrag Hess gemachte Vorschlag ist untauglich, um die Versorgungssicherheit zu stärken. Die Erhöhung von Preisen kurz vor der Abregistrierung hat keine kurzfristigen Effekte und der Vorschlag ist zudem völlig undifferenziert. Also alles andere als sauber durchdacht!
Es ist interessant, dass Interpharma dieses System unterstützt. Sie sind davon kaum betroffen, da sie die patentabgelaufenen Medikamente in der Regel auslizenzieren. Allerdings sind ehemalige Medikamente von Interpharma-Firmen durchaus sehr betroffen. So leiden eine ganze Reihe von ehemaligen Roche respektive Novartis-Produkten an Lieferengpässen. Dass dann im Antrag ausgerechnet noch Biosimilars von den Wettbewerbsmechanismen ausgeschlossen werden sollen, lässt tief blicken: praktisch alle Hersteller von Biosimilars sind bei Interpharma organisiert. Wenn „wirkstoffgleich“ nach den Regeln der Biosimilars ausgelegt wird (gleicher Hersteller, resp. Ur-Zelle), dann gibt es keinen fachlichen Grund, diese nach Klärung der nachfolgenden Rahmenbedingungen nicht in ein Wettbewerbssystem einzubeziehen. Genau so könnte man auch Immunsuppressiva ausschliessen, hier ist unter laufender Therapie der Wechsel vom Original auf’s Generikum oder umgekehrt auch problematisch – wenn auch aus anderen Gründen!

Wenn Preissysteme in dieser Art auf Gesetzesstufe geregelt werden, dann hat das weitreichende Folgen für die Versorgung. Ein Weg daraus hinaus ist kompliziert. Deshalb ist es besser solche Dinge auf Verordnungsstufe zu regeln. Das gibt grössere Flexibilität zu reagieren.
Folgende Punkte sind aus meiner Sicht notwendig:

  1. Ein obligatorisches Meldesystem für Lieferengpässe von verschreibungspflichtigen Produkten, wie dies in sehr vielen Ländern Europas bereits existiert (siehe Studie Vogler et al. Link am Anfang des Dokumentes). Für kassenpflichtige Medikamente kann das via KVG geregelt werden. Bei den lebenswichtigen Medikamenten, die nicht in der SL sind via bisheriges System (Landesversorgung). Das heutige System ist für Lieferengpässe bei Therapien für chronisch kranke Menschen untauglich (z.B. Epilepsie, Parkinson, gewisse Herzkrankheiten).
  2. Eine Klassierung der Wirkstoffe und Arzneiformen mit einem Ampelsystem Zum Beispiel könnten die Medikamente wie folgt klassiert werden:

    Grün für Arzneimittel respektive Arzneiformen, bei denen der Preiswettbewerb ohne Einschränkungen laufen kann. Das können zum Beispiel Antiallergika sein oder Magenmittel – mit Ausnahme z.B. spezieller Formen für Kinder, die dann in die Kategorie Gelb gehören.

    Gelb: Hier können Medikamente verzeichnet sein, bei denen Original und Generikum unter der Therapie nicht einfach austauschbar sind (Regeln der guten Substutionspraxis). Darunter fallen zum Beispiel Biosimilars oder Immunsuppressiva. Hier braucht es differenzierte Lösung für die Einstellung einer Therapie oder die Umstellung von einem Biosimilar auf das andere.

    Orange: für Arzneimittel respektive Arzneiformen, bei denen der Hersteller nachweisen soll, dass er über mindestens zwei äquivalente Wirkstoffquellen verfügt auf zwei verschiedenen Kontinenten, vorzugsweise eine in Europa. Dafür braucht es positive Anreize. Diesen Ansatz wählt beispielsweise die deutsche allgemeine öffentliche Krankenkasse (AOK) seit diesem Jahr in ihren Ausschreibungsverfahren. In dieser Klasse sind beispielsweise Medikamente gegen Tuberkulose, spezielle Arzneiformen für Kinder oder Menschen mit Einschränkungen, gewisse Antibiotika etc. oder Medikamente deren Ausfall eine unmittelbare Konsequenz haben. D.h. z.B. Antiepileptica, Parkinsonmedikamente, Antidepressiva.

    Rot für Arzneimittel für die Produktionskapazitäten in der Schweiz existieren sollen. Hier handelt es sich primär um lebenswichtige Medikamente, die zum Beispiel während der aktuellen Krise relevant sind. Das sind eher selten Medikamente, die direkt für die Krankenkassen relevant sind, sondern primär im Spital angewendet werden.
    Das wären zum Beispiel jene Medikamente, die beim BWL beschrieben sind.

    Die Klassierung muss nach einem risikobasierten Ansatz gestaltet werden. Das ist primär eine fachliche und keine politische Frage. Leitpunkt ist die Frage, ob ein kurzfristiger Ausfall eines Medikamentes einen raschen Einfluss auf die Therapie hat. So ist zum Beispiel der Ausfall eines Medikamentes gegen Epilepsie oder Parkinson mit sehr raschen Verschlechterungen des Allgemeinzustandes der Patienten verbunden. Beim Ausfall eines Medikamentes in der Psychiatrie sind die Folgen ebenfalls direkt spürbar, während beim Ausfall eines Schmerzmittels in der Regel Alternativen bestehen. Das aktuelle System orientiert sich am Umsatz. Das ist allerdings völlig irrelevant. Die Essentialität eines Produktes misst sich nie an Preisgrössen, sondern am spezifischen Einsatz. Auch das zeigt: das vorgeschlagene System ist alles andere als gut durchdacht! Einige Länder sind daran solche Systeme zu entwickeln. So zum Beispiel die USA, die das System in ihrem Bericht über «Drug Shortages: Root causes and potential solutions» vom Oktober 2019 beschrieben hat. https://www.fda.gov/drugs/drug- shortages/report-drug-shortages-root-causes-and-potential-solutions
  3. Der Bund hat Regeln für den Import von Arzneimittel aufgestellt. In den Verordnungen zum Heilmittelgesetz ist der Import ohne Zulassung erlaubt, wenn es keine zugelassene Alternative gibt oder das Medikament in der Schweiz zwar zugelassen, aber nicht verfügbar ist. Das ist schon mal gut. Diese Medikamente könnten via Artikel 71 KVG auch bezahlt werden. Die Verfahren dazu sind jedoch mit hohem bürokratischem Aufwand verbunden. Nimmt die Abregistrierung von wichtigen Arzneimitteln in der Schweiz weiter zu, so sprengt dies die Möglichkeiten der Leistungserbringer. Hier braucht es einfachere Mechanismen. Auch die bürokratischen Auflagen sollten einfach sein: So kann es nicht sein, dass die Leistungserbringer den günstigsten Preis in Europa herausfinden müssen, um ihre Patienten kurzfristig versorgen zu können. Die rasche Verfügbarkeit muss das oberste Ziel sein. Dafür geeignet sind umliegende Länder, die zudem die Packungsbeilagen in für die Patientinnen und Patienten verständlicher Sprache ausführen.
    Wird die Bürokratie nicht einfacher geregelt, dann sind viel teurere Präparate die einzige Alternative, um ohne grossen bürokratischen Aufwand zum Ziel zu kommen. Der Schaden ist programmiert. Einmal umgestellte Patientinnen und Patienten bleiben auf der teureren Therapie. Wenn das ursprüngliche Medikament wieder verfügbar ist dauert es lange bis das Niveau von vorher wieder erreicht ist. So kürzlich geschehen beim Leukämiemedikament Litalir (Monatstherapiekosten von 100.-) als bei Nichtverfügbarkeit auf das neuere Medikament Imatinib umgestellt werden musste (Monatstherapiekosten von rund 1400.-).
  4. Die ALT (Arzneimittelliste mit Tarif) muss dringlich revidiert und den aktuellen gesetzlichen Vorgaben angepasst werden. Die Liste stammt aus dem Jahr 2005. Seit damals sind zwei Revisionen des Heilmittelgesetzes verabschiedet worden, die grossen Einfluss auf die Herstellung haben. Die ALT ist das Hauptinstrument, um Ersatzlösungen grade für fehlende Kinderarzneimittel oder fehlende Medikamente für die schwächsten Patientengruppen kurzfristig möglich zu machen. Hier sind immerhin erste Schritte in die Wege geleitet. Das Bundesamt für Gesundheit hat das Problem erkannt.
  5. Die Möglichkeit für Exportstopps auf Stufe Grosshandel muss geschaffen werden
    Dieses System haben zum Beispiel Österreich und Belgien, sowie einige andere Länder etabliert. Ist ein Medikament als kritisch gemeldet, so darf es auf Grosshandels- respektive Detailhandelsstufe nicht mehr exportiert werden.
    Dies deshalb, weil zum Beispiel Deutschland die Engpässe in Österreich mit verursacht hat oder Frankreich jene in Belgien. Die lokalen Gesetze sind vom europäischen Gerichtshof bewilligt worden. Aktuell bedient sich Deutschland für einige Medikamente in der Schweiz (z.B. Aldomet oder Venlafaxin), weil der Weg über Österreich nicht geht. Die Schweiz kennt diese Möglichkeiten im Landesversorgungsgesetz. Sie sind allerdings dort primär auf die in diesem Gesetz relevanten Medikamente (lebenswichtige Medikamente) bezogen und auch hier sind Therapien für chronisch kranke Patientinnen und Patienten nicht erfasst (Epilepsie, Parkinson und andere). Exportstopps sind immer ultima ratio.
  6. Die Leistungen rund um die Organisation von nicht verfügbaren Medikamenten muss honoriert werden. Die Krankenkassen stehlen sich hier völlig aus der Verantwortung. Der Aufwand zur Organisation ist für die Leistungserbringer riesig.

Die Bemerkung der Konsumenten- respektive Patientenverbände, sich für die Preisbildung nicht von der Industrie erpressen zu lassen ist völlig richtig!
Nur dann braucht es einen Plan B!
Es kann nicht sein, dass sich sowohl die Politik auf nationaler und kantonaler Ebene wie auch die Krankenkassen völlig aus der Verantwortung nehmen und das Ausbaden der Konsequenzen von rigiden Preissystemen die Leistungserbringer und letztendlich die Patientinnen und Patienten zu tragen haben. Leider stellen wir fest, dass allein in den letzten drei Monaten mindestens vier wichtige Medikamente definitiv in der Schweiz nicht mehr zur Verfügung stehen : Wichtige Medikamente für die Palliativpflege (retardiertes Morphium als Suspension), das letzte zugelassene Medikament für die Therapie der hyperaktiven Blase für Kleinkinder, ein Medikament zur Akutbehandlung von Angststörungen und eines der wichtigsten Antibiotika in der Kindermedizin und in der Geburtshilfe. Solche Abregistrierungen gehen immer zu Lasten der schwächsten Patientengruppen. Preissysteme müssen flexibel bleiben, sich an sich sehr schnell verändernden Realitäten orientieren können. Preiswettbewerb braucht Rahmenbedingungen, die dazu führen, dass das übergeordnete Ziel „first do no harm“ erfüllt werden kann. Es geht hier nicht um Socken oder Bratwürste, es geht um Medikamente, auf die Patientinnen und Patienten eingestellt sind.
Wie sie aus dem Artikel von Vogler et al. (Link am Anfang) sehen können, haben praktisch alle Länder mit Referenzpreissystemen solche Rahmenbedingungen geschaffen. Frankreich und die Niederlande diskutieren im Moment sogar Pflichtlager für alle verschreibungspflichtigen Medikamente von mindestens 2 Monaten. Von der Erledigung dieser Hausaufgabe ist die Schweiz noch weit entfernt. Und eigentlich wäre das der erste Punkt, den es zu regeln gilt. Es nützt nichts, wenn die Medikamente zwar wenig kosten, aber dafür nicht mehr zur Verfügung stehen. Für ein Land wie die Schweiz ist das ein Armutszeugnis!
Das EU-Parlament hat diesen Umstand erkannt und die Resolution „Shortages of medicines – how to adress an emerging Problem“ mit 633 zu 10 Stimmen Ende September 2020 verabschiedet. Darin werden ähnliche Vorschläge gemacht, wie ich sie dargelegt habe. Das Dokument zeigt auch, dass es das Problem tatsächlich gibt – nicht nur wegen Corona. Corona hat es einzig sichtbarer gemacht. https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2020-0228_EN.html

Im Sinne des „First do no Harm“ bitte ich Sie die Mehrheitsanträge zu unterstützen und die Anträge der Minderheit Hess abzulehnen. Damit öffnen Sie die Türen, damit ein System entstehen kann, das sowohl die Versorgung nachhaltig verbessert und gleichzeitig auch Wettbewerb zulässt. Mit der Zustimmung zu den Anträgen der Minderheit Hess giessen Sie ein System ohne Rahmenbedingungen in Beton. Ich halte das für fahrlässig, insbesondere wenn dies ohne die dargelegten Begleitmassnahmen passiert. Sie tragen letztendlich die Verantwortung dafür, die aktuelle Situation für die Patientinnen und Patienten zu verbessern oder mindestens nicht zu verschlechtern.

Mit Unterstützung der Motion der Kommission 20.3936 eliminieren Sie zudem die Fehlanreize beim Vertriebsanteil, eine seit langem dringende Korrektur, die Leistungserbringer nicht mehr bestrafen wird, die das Arzneimittel mit bestem Kosten/Nutzen Verhältnis verschreiben und abgeben. Diese Korrektur mit grosser Wirkung hat ebenfalls auf Ebene der Verordnung (Art. 38 KLV) zu erfolgen und nicht des Gesetzes.

Freundliche Grüsse
Dr. pharm. Enea Martinelli