Wie die Wissenschaft während der Corona-Krise Wissen schafft

Der Versuch einer Klärung von Verwirrungen

Die Wissenschaft vermittelt zurzeit ein widersprüchliches Bild rund um das Corona-Virus. Für den Laien sind die Schlagzeilen aus der Forschung sehr schwer nachvollziehbar und verwirrend. Tempo ist gefragt. Gute Wissenschaft und Tempo schliessen sich gegenseitig fast aus. Der Prozess vom Studiendesign bis zur Veröffentlichung der durch unabhängige Experten geprüften Publikation dauert normalerweise ein bis mehrere Jahre. Viel zu lange in der aktuellen Situation.
Im Gegensatz zu reinen Behauptungen und Einzelfallberichten lebt Wissenschaft davon, Thesen statistisch erhärtet zu beweisen oder zu verwerfen, Resultate von bereits gemachten Studien zu hinterfragen und mit neuen Methoden zu widerlegen oder zu bestätigen. Je jünger die Forschung zu einem Thema ist, desto grösser sind die Widersprüche in den Resultaten von Studien. Dieses Coronavirus wurde erst Ende 2019 entdeckt. Um die Mechanismen der Verbreitung des Sars-Cov2 Virus zu verstehen und daraus fundierte Entscheidungen abzuleiten oder um an CoviD erkrankte Patientinnen und Patienten erfolgreich behandeln zu können,war Wissen sofort gefragt. Dadurch ist ein Wissenschaftswettbewerb entstanden, den wir in dieser Form bisher nicht kannten.
Die Frage war nun, wie Studienresultate der Fachwelt so rasch wie möglich und in trotzdem qualitativ hochstehender Form zur Verfügung gestellt werden können.
Anfang der 90er Jahre wurden die ersten sogenannten Preprint-Server eingeführt. Studien können dort praktisch ohne Hürden hochgeladen werden, um sie der Diskussion in der Fachwelt auszusetzen, auch um die Chancen auf die spätere Veröffentlichung in renommierten Fachzeitschriften zu erhöhen. Das war bis zu Corona eigentlich kein Problem. Da die Zeit drängt und die Öffentlichkeit auf DEN Durchbruch wartet, haben diese Preprint-Server eine neue Bedeutung erhalten: Einige Medien stürzen sich jeweils wie Geier auf neu hochgeladene Studien und verkünden dann in grossen Lettern, dass unveröffentlichte Studien ein bestimmtes Resultat gezeigt hätten. Preprint-Publikationen sind jedoch nicht für Schlagzeilen gedacht, da sie nicht bewertet und wissenschaftlich eingeordnet sind. Die dort entstehende Diskussion wird dann in der Presse zu einem Wissenschaftsstreit hochstilisiert. Das ist kein Streit sondern ein wissenschaftlicher Austausch mit dem Ziel, rasch qualitativ gute Forschungsresultate zu erzielen. Genau das ist Sinn und Zweck dieser Plattformen. Auch Journalisten grösserer Schweizer Tageszeitungen sind darauf schon angesprungen und haben die Diskussionen missbraucht, um die Kompetenz bestimmter Forscher anzuzweifeln. Leider dominieren Schlagzeilen über Preprint-Studien und Diskussionen die Corona-Berichterstattung, womit der gute Zweck dieses Verfahrens völlig verloren geht.
Normalerweise erfolgt nach dieser Preprint-Phase vor der definitiven Publikation eine sogenannte Peer-Review durch unabhängige Experten und Experten. Je renommierter die Fachzeitschrift, desto höher die Hürden. Normalerweise. Auch hier wurde das Verfahren deutlich abgekürzt, so dass Studien rund um das Coronavirus viel schneller – innert weniger Tage – zur Publikation gelangen. Mit dem Vorteil der schnelleren Verfügbarkeit der Daten, mit dem Nachteil, dass auch Studien publiziert werden, deren Resultate sich später als eher fragwürdig herausstellen.
Die Forschung ist gefragt sehr schnell qualitativ einwandfreie,nicht widerlegbare Resultate zu liefern. Die Forderung nach Geschwindigkeit hindert sehr oft gutes wissenschaftliches Handwerk. Aus diesen Verwirrungen generelle Schlüsse zur gesamten Forschungswelt zu ziehen wäre jedoch völlig verkehrt. Normal ist rund um Corona nicht viel. Auch nicht in der Wissenschaft.

« Je jünger die Forschung zu einem Thema ist, desto grösser sind die Widersprüche in den Resultaten von Studien.Das ist völlig normal»