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Beispiele zum Verzweifeln- Teil 4 – Verblisterung

Wir versorgen die Patienten einiger Heime mit fix fertig – auf den Zeitpunkt der Einnahme – vorbereiteten Medikamenten. Dieser Vorgang ist bekannt als Verblisterung. Hier eine Beschreibung mit Film :

https://blistersuisse.ch/verblisterung/das-ist-verblisterung

Das heisst wir geben den Patienten nicht Packungen ab, sondern wir verteilen den Inhalt einer Packung auf mehrere Patienten.
Logischerweise haben wir alles Interesse daran, dass die Packungen möglichst gross sind und auch möglichst als sogenannter Bulk, dh als Schüttware geliefert werden. Sonst müssen wir die einzeln auspacken. Eine grosse und zeitintensive Arbeit.

Mit der Abschaffung der Grand-frère Regel können wir diese Spezialpackungen am Schluss nicht mehr abrechnen weil diese Packungen nicht in die SL kommen u.a. weil sie für die Einzelanwendung zu gross und in der Folge nicht zweckmässig sind. Mit der Grand Frère Regelung konnten wir das bisher umgehen. Tabletten aus diesen Packungen wurden bezahlt unter der Bedingung, dass sie günstiger waren als die grösste SL Packung.

Grand Frère wird mit dem Argument aufgehoben, dass es zu Verschwendung führen kann. Bei der Verblisterung passiert genau das Gegenteil.

Bei einem Therapieabbruch ist das maximale „Risiko“ der Verschwendung eine Woche weil wir jeweils Wochenrationen herstellen. Bei der Abgabe einer 3-Monatspackung ist das Risiko eben diese 3 Monate.

Mit der Abschaffung der Grand FrèreRegelung wird alles mit dem gleichen Argument über einen Leist geschlagen. Offensichtlich sind differenzierte Lösungen nicht gefragt – koste es was es wolle …..

Gopf !

Beispiele zum Verzweifeln – Teil 3 – Röntgenkontrastmittel

Wir verwenden in der Radiologie Röntgenkontrastmittel – logischerweise in doch beträchtlichen Mengen.

Deshalb kaufen wir auch Grosspackungen ein. Dh Kartons zu 10. Einen Teil davon brauchen wir für stationäre Patienten; das gleiche Kontrastmittel brauchen wir auch für ambulante Patienten.

Wir setzen dazu eine 200 ml Flasche ein, diese ist an eine Pumpe angeschlossen und die Lösung wird für mehrere Patienten verwendet. Selbstverständlich wird der „Anschluss“ an die Patienten immer gewechselt. Hygienisch also kein Problem und langjährige Praxis.

Wir durften bisher die Flaschen aus der Grosspackung auch ambulant abrechnen, sofern sie günstiger waren als die Einzelflasche. Wir haben jeweils die verwendeten ml aus der 200 ml Flasche in der 10er Schachtel abgerechnet.

Neu dürfen wir das wegen der Streichung der Grand-Frère Regelung nicht mehr. In der SL sind von diesem Präparat nur die 1-er Schachteln mit 50 und 100 ml drin.
Nebst dem Umstand, dass der ml aus der 200 ter Flasche aus der 10er Schachtel 3 x weniger kostet als die Einzelflasche führt das also jetzt dazu, dass wir bei ambulanten Patienten nur noch Kleinflaschen einsetzen dürfen.

Das ist weder sinnvoll noch ökonomisch. Nachgewiesenermassen braucht die Anwendung von Einzelflaschen mehr Kontrastmittel als die Anwendung über die Pumpe.

Der Clou hier : die 200 ml Flasche in der 10er Packung konnte bisher nicht in die „Spezialitätenliste“ aufgenommen werden – auch hier weil sie für die Einzelanwendung zu gross sei….

Ich finde das extrem sinnvoll. Die Patienten und die Umwelt wird mehr belastet, wir verdienen mehr. was rege ich mich denn überhaupt auf … Zudem schlagen wir doch immer auch auf jede Flasche die volle Marge drauf – gut für uns. Aber derart von völlig sinnlos ….

Beispiele zum Verzweifeln – Teil 2 – Antibiotika sorgfältig einsetzen …

Vor operativen Eingriffen wird häufig ein Antibiotikum eingesetzt zur Abschirmung der Patienten. Das Medikament wurde früher in erster Linie stationär verwendet. Jetzt kommt die neue Regelung ambulant vor stationär. Was zur Folge hat, dass das Medikament statt wie bisher über die Pauschale neu vermehrt als Einzelleistung abgerechnet wird.

Das Original ist einzeln verpackt und in der „Spezialitätenliste“ SL – wird also bezahlt. Stationär verwenden wir die 10er Packung des Generikums. Die Firma hat ein Gesuch um Aufnahme in die SL gemacht. Das Gesuch wurde abgelehnt. Begründung war nicht etwa der Preis sondern die 10er Packung, die für eine Einzelanwendung zu gross und deshalb nicht zweckmässig sei. So argumentieren kann man nur wenn man die Praxis (dh das Aufteilen einer Packung über mehrere Patienten) völlig ausblendet.

Ist das sinnvoll ???

Konkret müssten wir also entweder das gleiche Präparat 2 x haben. Das Generikum für stationär und das Original für ambulant – oder dann müssten wir stationär das Original wieder einführen um nur noch eins zu haben. Oder das Generikum müsste auch eine 1er Packung einführen was völliger Blödsinn ist. Wir brauchen die Ampullen als Massenware (ca 5000 im Jahr)

Und der Clou1: bei einer Einzelflasche ist unsere Marge höher als bei der 10er Packung. warum rege ich mich dann überhaupt auf …..

Clou 2: die Zusatzversicherung würde das Generikum übernehmen. Die Grundversicherug nicht.

Logisch oder etwa nicht ??

Clou 3 : das Original war letztes Jahr über mehrere Monate nicht lieferbar. Und jetzt ? Nehmen wir ein breiter wirkendes Antibiotikum, das bezahlt wird oder geben wir das Sinnvolle das eben dann nicht bezahlt wird …

Das passt dann gut zu dem Bild …

Beispiele zum Verzweifeln – Teil 1 – teure Chemotherapien

Die Krankenkassenaufsicht wurde verschärft. Das ist an sich ja gut. Nur werden jetzt viele pragmatische Lösungen über den Haufen geworfen.
Die bestehenden Verordnungen müssen wortgenau umgesetzt werden. Ein anderer (auch möglicher Weg) wäre ja auch gewesen zuerst hinzuschauen, was eigentlich der Sinn hinter den getroffenen Lösungen ist und allenfalls die Verordnung zu ändern…. aber item, das ist offensichtlich nicht die Aufgabe der Aufsicht.
Jetzt fliegt uns allerdings einiges um die Ohren das bisher schlicht nicht geklärt war.
Die Konsequenzen daraus sind teuer.

Ein weiteres Beispiel dazu :
Das BAG hat seit dem Jahr 2002 versäumt zu klären wie genau die Regeln der Anwendung des sogenannten Zytostatika-Tarifs sind. Dies führte immer wieder zu Diskussionen. Die Spitalapotheker sind wiederholt vorstellig geworden und haben auch einige Vorschläge zur Umsetzung eingebracht. Die Eingaben wurden nicht einmal beantwortet.
In der Zwischenzeit hat man sich mit den meisten Kassen arrangiert und pragmatische Lösungen gefunden. Aber jetzt geht das eben nicht mehr.
So wurde eine Krankenkasse besonders kreativ und hat mittels juristischem Gutachten klären lassen wie denn der Tarif anzuwenden sei. Die Juristen – mit offenbar sehr wenig Sachverstand für heilmittelrechtliche oder arbeitsrechtliche Vorschriften rund um Krebsmedikamente – sind zum Schluss gekommen, dass man den Tarif gar nicht anwenden könne. Im Jahr 2019, also 17 Jahre nach Inkrafttreten des Tarifs ….

Und das weil das BAG trotz mehrfachem Hinweis und mehrfacher Aufforderung verschiedenster Seiten (auch von Kantonsapothekern) das Ganze hat Schleifen lassen. Notabene seit Einführung des Tarifs im Jahre 2002 … Und seither haben sich die Rahmenbedingungen noch verschärft, die Regeln im Arzneimittelrecht (erlassen durch den Bundesrat über das gleiche BAG ; aber eben eine andere Abteilung) haben sich geändert. Es gibt harmonisierte Vorschriften der Kantonsapothekerämter, es gibt Vorgaben der SUVA etc. etc. Das alles ist bei der zuständigen Abteilung des BAG vorbei gezogen, als ob die Welt stillgestanden wäre. Trotz mehrfachen Hinweisen, dass Handlungsbedarf bestehe.
Jetzt haben wir den Salat …

Ich mache ein Beispiel (und habe noch viele andere dazu) das Mehrkosten pro Patient in der Grössenordnung von über 14’000 Franken auslöst – für einen einzigen Patienten. Und die 14’000.- sind für den Abfallkübel und nicht für die Therapie …


Es gibt eine neuere Kombinationstherapie zur Behandlung des Hautkrebses. Diese besteht aus den beiden Medikamenten Opdivo und Yervoy.
Das Schema lautet : Opdivo 1mg/kg alle 3 Wochen gefolgt von Yervoy 3 mg/kg am gleichen Tag während 4 Zyklen.

Die Dosierung hier ist in mg / kg, hängt also davon ab wie schwer jemand ist.
Nehmen wir mal ein Durchschnittsgewicht von 70 kg an.
Vom Opdivo wären also 70 mg gefordert, vom Yervoy 210 mg alle 3 Wochen während 4 Zyklen, also insgesamt 280 mg Opdivo und 840 mg Yervoy.
Soweit noch ok.
Jetzt gibt’s Opdivo in Flaschen zu 40 mg, zu 100 mg und zu 240 mg. Yervoy gibt’s in Flaschen zu 200 mg und zu 50 mg.
Der Hacken dabei : die offenen Flaschen von Opdivo sind gemäss Fachinformation nur 48 Stunden haltbar. Jene von Yervoy während 24 Stunden. Dafür haftet die Firma.
Das heisst die Gesamtzahl von mg ist für den „normalen“ Vorgang nicht relevant.

Pro Zyklus braucht man also zwei Flaschen Opdivo zu 40 mg; davon werden in jedem Zyklus 10 mg weggeworfen. Also insgesamt 8 Flaschen für 4 Zyklen; Eine Flasche kostet 682.75. Das Opdivo kostet demzufolge total 5462.- ; von den eingesetzten 320 mg wandern deren 280 in den Patenten und 40 mg im Wert von 682.75 in den Kübel. Das geht hier aufgrund der Haltbarkeit nicht anders.

Beim Yervoy sieht es etwas anders aus :
Hier braucht es pro Zyklus eine Flasche zu 200 mg und eine zu 50 mg.
Kostet 17’327.05 und 4’516.25 Total also 21’843.30 pro Zyklus bei 4 Zyklen sind das 87’373.20. Davon gehen 840 mg in den Patienten und insgesamt 160 mg in den Kübel;
Wert für den Kübel rund 14’452.- …. für einen einzigen Patienten.
Das sieht sehr teuer aus – und ist es auch. Also haben wir alles Interesse daran die Kosten tief zu halten .
Jetzt gibt es Fachliteratur (nicht abenteuerliche Käseblätter, sondern angesehene Fachzeitschriften) die aussagen, dass Yervoy unter der Bedingung, dass es unter kontrollierten sterilen Bedingungen aufbereitet wird durchaus länger als die 24 Stunden haltbar ist. Bedingung ist ein Reinraum. Und genau den haben wir, diese Einrichtung wird kantonal geprüft, die Vorschriften zu Betrieb sind streng. Und dafür gibt’s eben diesen Zytostatika-Tarif.
So wird es möglich, dass Yervoy mg-genau verwendet werden kann. Entweder für mehrere Patienten innerhalb von kurzer Zeit oder eben auch für den gleichen Patienten innerhalb von 3 Wochen. Dafür trägt nicht mehr die Firma die Verantwortung, sondern die Person, die für die Herstellung verantwortlich ist. Das ist rechtlich gesehen kein Problem, wenn die in der sogenannten Pharmakopoe beschriebenen Regeln eingehalten werden. Für Optivo geht das leider nicht. Die Haltbarkeit ist nicht gegeben.

Die Konsequenz :
Yervoy kostet noch 73826.25 (statt 87373.20). In den Kübel gehen am Schluss allenfalls noch 10 mg Yervoy. Und dies nur dann, wenn es keine weiteren Patienten zu behandeln gilt.
Dazu kommt der Zytostatika-Tarif : also 55 Franken pro Infusion. Das sind 4 x Opdivo und 4 x Yervoy, also 8 x 55.- ergibt 440.-;

Jetzt verweigert die eine Krankenkasse den Tarif. Sie sagt aus, dass die Arzneimittel alle verwendungsfertig seien und nimmt dazu eine Definition, die sie sehr eigentümlich herleitet.
Wenn sie also verwendungsfertig sind, dann braucht es keine Manipulation mehr, das heisst es fällt auch kein Tarif an.
Logisch also, dass wir dann auch nicht Teile in Rechnung stellen, sondern das eben „verwendungsfertige“ Produkt.
Ich kann da verschiedenen Leuten gratulieren :
Der Krankenkasse zum Sparen von 440.- Tarif.
Der Firma BMS zu rund 14’000.- Umsatz.
Der Abfallwirtschaft für die Entsorgung von unnötigem Sondermüll im Hochtemperaturverbrennungsofen.
Und eigentlich auch uns. Denn statt den 440.- für den Tarif und insgesamt 10 eingesetzten Falschen mit jeweils einer Marge von 240.- (Total 2400.-+440.-) verbrauchen wir neu insgesamt 16 Flaschen mit einer ähnlich hohen Marge und verdienen dabei 3840.-.
Also was rege ich mich denn überhaupt auf. Die Produktion von Abfall wird ja sehr üppig gefördert….
Sinnvoll ist anders. Und nur weil die Ausgangslage komplex ist schaut niemand hin.

Selbstverständlich gibt es auch Therapien, bei denen die Anwendung des Tarif’s Zusatzkosten gegenüber den konventionellen Verfahren generiert, so wie in diesem Beispiel beim Opdivo.
Den Tarif gibt’s jedoch nicht einfach so. Entweder wenden wir ihn überall an oder gar nicht. Die Schutzmassnahmen fürs Personal braucht es so oder so – auch beim Opdivo. Und wenn ein Apotheker involviert ist, dann handelt es sich immer um eine Herstellung. D.h. die Qualitätssicherungsmassnahmen sind genau gleich. Mittlerweile deckt der Tarif die Kosten nicht mehr und angesichts des Spareffektes müsste er eigentlich so oder so höher sein.

Unter dem Strich geht’s sehr locker auf. Bei uns werden alleine mit 4 Medikamenten alle Kosten für die Tarife mehr als kompensiert. Unter dem Strich resultiert immer noch ein mittlerer 6-stelliger Betrag zu Gunsten der Kassen. Die Massnahme ist also hoch effizient.
Deshalb begreife ich nicht, weshalb man dieses Thema so lange vor sich hin schleppt und nicht in der Lage ist unter Einbezug der heilmittelrechtlichen Vorgaben der Pharmakopoe und des Heilmittelgesetzes klar Stellung zu beziehen.
Ich überlege ernsthaft ob wir uns dies überhaupt noch antun wollen und der Einfachheit halber den vollen Preis verrechnen. Es scheint sich niemand dafür zu interessieren….
Vernunft ist anders. Aber was will man anderes tun, wenn seit fast 20 Jahren nicht gehört wird….



Don Quichote in der Pharmawelt

Kolumne Bödeli Info März 2019

Das Thema der Medikamentenversorgung gehört zu meinem Beruf und Lieferschwierigkeiten von Pharmafirmen gab’s schon früher. Waren es in den 90er Jahren noch wenige kurze Engpässe wurden es mit den Jahren immer mehr und die Dauer immer länger. Aktuell sind wir bei über 550 nicht lieferbaren Medikamenten.

Stellen Sie sich ein älteres Ehepaar vor, das seine Medikamente für die folgende Woche vorbereitet. Menschen in einem Alter von über 70 Jahren haben laut der Krankenversicherung Helsana im Durchschnitt etwa 9Medikamente verordnet, die sie zu unterschiedlichenTageszeiten, meist mehrmals täglich und in bestimmten Abständen, einnehmen müssen. Das an sich ist schon kompliziert genug. Jetzt kommen noch die Lieferengpässe dazu. Obwohl verschiedene Medikamente mit demselben Wirkstoff herausgegeben werden, sehen die Tabletten immer anders aus. Dass heisst, dass es einmal grüne runde Tabletten gibt und ein anderes Mal rote ovale Tabletten. Sie ahnen es: Fehler sind so programmiert. Damit sind nicht nur ältere Menschen zeitweilig überfordert, sondern viele, die mehrere Medikamente zu sich nehmen oder sie für Dritte vorbereiten müssen. Wenn dann ein Wirkstoff über längere Zeit gänzlich fehlt, so müssen Therapien umgestellt werden, was mit zusätzlichen Arztbesuchen verbunden ist.

Lieferschwierigkeiten haben in der der Regel einen Zusammenhang mit Kosten, der Globalisierung und der Konzentration der Wirkstoffproduktion mehrheitlich nachChina oder Indien – sowohl bei Generikafirmen wie auch bei Originalherstellern. Fliegt eine Fabrik in die Luft, so wie vor zwei Jahren im chinesischen Tanjin, fegt ein Wirbelsturm über ein Gebiet wo mehrere Wirkstoffhersteller angesiedelt sind, so wie in Puerto Rico, oder ist ein Wirkstoff verunreinigt wie beim Valsartan dann hat das länger dauernde globale Auswirkungen – auch auf die Schweiz. Nicht nur beim betroffenen Wirkstoff selber sondern auch bei den möglichen Alternativen. Der Aufwand die Patientinnen und Patienten adäquat zu versorgen ist deutlich grösser geworden. Die Verunsicherung ist gross.

In einer Mangelsituation steht bei den Patientinnen und Patienten sehr oft in erster Linie die Hausapotheke oder der Hausarzt oder eben die versorgende Spitalapotheke in der Kritik.

Auch mein Team und ich waren mit dem Vorwurf mangelhafter Nachschuborganisation konfrontiert. Deshalb habe ich im Jahr 2015 nach einer Auseinandersetzung mit einer Firma beschlossen auf eigene Faust die Webseite www.drugshortage.ch zu erstellen. Unsexy im Design und brutal langsam – aber wirkungsvoll und zurzeit mit grosser medialer Aufmerksamkeit. Die Webseite hat das Ziel Transparenz zu schaffen und die Kolleginnen und Kollegen zu befähigen rechtzeitig reagieren zu können. Zu Beginn wurde meine Aktion belächelt, aber der Druck hat nach rund drei Jahren Betrieb gewirkt. Tatsächlich sind mittlerweile immer mehr Firmen bereit rechtzeitig zu informieren. Fast alle Generika-Firmen machen mit und neu auch grosse Originalhersteller. Auch wenn dadurch die Medikamente trotzdem immer noch nicht lieferbar sind und das Problem immer grösser wird – wenigstens können wir uns und die Patientinnen und Patienten richtig orientieren und frühzeitig reagieren.

Und die Behörden und die Krankenkassen ? Sie ignorieren das Thema und finden, dass dies primär unser Problem sei und wir die Lage nicht im Griff hätten; Sie leben auf einem anderen Planeten.

Ein Lieferengpass mit Folgen

Heute hat mich ein 88-jähriger Herr angerufen. Er habe mich im Fernsehen gesehen und für kompetent gehalten sein Problem zu lösen (.. ;-)) ). Er werde seit Jahren mit gutem Erfolg mit dem Blutdruckmittel Doxazosin (Cardura) behandelt und er könne nicht glauben, dass das nicht lieferbar sei. Der Hausarzt habe jetzt seine Therapie umstellen müssen mit der Folge, dass sein Blutdruck nicht mehr eingestellt sei und er jetzt statt 1 x in der Regel 4 x in der Nacht zur Toilette müsse.

Er hat angerufen um zu klären ob es stimme, dass alle Doxazosin -Präparate nicht lieferbar seien und was der Grund dafür sei. Sämtliche Doxazosin Präparate sind zur Zeit nicht lieferbar – auch nicht aus dem Ausland. Das Original fehlt seit 12 Monaten. Das Generikum seit Mitte November. Wann es wieder lieferbar ist ist unklar. Die Termine werden laufend nach hinten verschoben. Der genaue Grund ist mir nicht bekannt.

Ein Beispiel das zeigt, dass Lieferengpässe durchaus Folgen haben. Nicht nur bezüglich des therapeutischen Effektes sondern auch bezüglich der Kosten. Um ihn wieder gut mit anderen Blutdrucksenken einzustellen wetden mehrere Arztbesuche notwendig. Wenn der Patient nicht rechtzeitig informiert ist, dann muss das sehr kurzfristig erfolgen, denn die Risiken des Absetzens ohne Massnahmen sind gross. Und in der Regel holen die Patientinnen und Patienten ihre Medis kurz bevor sie ausgehen.

News aus der Kassenwelt ….. – wie man Vernünftige in die Unvernunft treibt …

Wieder einmal habe ich zwei Fälle bei denen die Grenzen meines Verstandes ziemlich strapaziert werden:

Fall 1 :
Bei einem Patienten mit einem neu diagnostizierten metastasierenden Pankreas-Krebs in einem klinisch fortgeschrittenen Stadium. Wie in der Onkologie üblich haben unsere Ärzte die in diesem Stadium wirksamste Therapie herausgesucht und ein Kostengutsprachegesuch mit Beilage der entsprechenden gut fundierten Literatur gestellt. So wie sie das schon mehrfach bei anderen Kassen gemacht haben und die Übernahme der Kosten so immer geklappt hat. Es bestand eine grosse Dringlichkeit, weil ein Nichtbeginn der Therapie relativ rasch fatale Folgen für den Patienten gehabt hätte.

Soweit so „normal“ (nicht für den Patienten natürlich aber für den Ablauf)

Die Antwort der Krankenkasse war so, dass sie die Kostenübernahme erst beurteilen könne, wenn sie wisse, von welchem Hersteller die eingesetzten Produkte seien. Das ist zwar eine eher unkonventionelle Nachfrage, aber an sich legitim, denn die Finanzierung erfolgt nach dem sogenannten Artikel 71 KVV, einem Artikel, der die Bezahlung sogenannter „off-label“ Therapien zulässt. Für die Insider: FOLFIRINOX an sich wird in Klasse A angesiedelt mit im NJEM belegten OS > 6 Monate.

Wir setzen für diese Art von Therapie alles Generika ein, zufälligerweise alle vom gleichen Hersteller. Die Präparate gibts noch von einem anderen Hersteller als Generika plus die Originale natürlich. Die Kostenübernahme sollte also eigentlich kein Problem sein. Dachten wir… Bis hier hin habe ich zwar über die Anfrage etwas gestaunt, denn sie war in der Logik zwar unkonventionell aber immer noch einigermassen nachvollziehbar.

Jetzt kommt der doch etwas befremdliche Teil: Der redlich um eine Lösung bemühte Sachbearbeiter teilt uns mit, dass die Krankenkasse die Therapie nicht übernehmen könne, wenn wir Generika von diesem Hersteller einsetzen würden (es ist kein exotischer Hersteller sondern einer der grössten weltweit). Die Kasse habe mit keiner der beiden Generika-Firmen einen Vertrag für die Rückvergütung bei off-label-use Fällen.

Ich habe dann nachgefragt mit welchen Firmen sie denn einen Vertrag hätten. Und siehe da: mit den beiden betroffenen Originalherstellern haben sie einen. Nach langem hin und her haben wir uns dann geeinigt. Mit unseren Abrechnungsregeln bei denen wir uns an die Rabattweitergabepflichten halten und Grossgebinde zur Herstellung einsetzen kam der Preis auf deutlich weniger als die Originalpräparate und auch auf deutlich weniger als den Publikumspreis der Generika. Das machen wir immer so, nicht nur für diese Kasse. Wenn wir die Originalpräparate angegeben hätten wäre es wohl zu keiner Diskussion gekommen …..

Was mich daran sehr stört: Und uns wirft man vor, dass wir an den Originalen festhalten, weil wir finanziell davon profitieren. Das stimmt zwar überhaupt nicht, denn die Rabatte sind bei den Generika viel höher als bei Originalen.

Ich habe ein grundsätzliches Problem damit wenn diejenigen, die uns deswegen kritisieren, selber genau das machen, was sie uns vorhalten. Dann geht das über mein Verständnis hinaus. So werden Vernünftige in die Unvernunft getrieben…

Fall 2:
Das Präparat Quetiapin wird in der Geriatrie bei Unruhezuständen als Reservemedikation in sehr tiefer Dosierung eingesetzt. Die tiefste im Handel erhältliche Dosierung ist 25 mg. Es reichen aber in der Regel 5 bis 10 mg aus, da insbesondere ältere Patienten mit einer eingeschränkten Nierenfunktion mit 25 mg nicht nur ruhig sondern sehr ruhig sind. Das ist nicht vernünftig. Leider gibt es keinen Hersteller, dessen Tablette zur Teilung vorgesehen ist. Die Tabletten sind rund und haben einen Durchmesser von 6 mm.
Jetzt versuchen Sie mal so eine kleine Scheibe mit 25 mg zu teilen. Richtig: das gelingt schlecht, sie haben auf der einen Seite dann möglicherweise dann 15 mg und auf der anderen Seite nur 10.  Aber eigentlich sind nur 5 mg ausreichend. D.h. sie müssten die 25 mg Tablette Fünfteln. 10 mg auf Anhieb zu erreichen ist fast nicht möglich. Die Hersteller sind nicht bereit diese in der Praxis übliche Dosierung anzubieten, weil die Indikation der Sedation bei Unruhestörung im off-label Bereich liegt. Das ist jedoch gängige Praxis. Soweit so gut, über die Sinnhaftigkeit kann man lange diskutieren, auch darüber weshalb man keine Studien bei älteren Menschen macht, aber das ist ein anderes Thema….

Jetzt zum konkreten Fall : Damit die Patientinnen und Patienten nicht im Unruhezustand mit Fingern, die von der Altersarthrose geschwächt sind eine Tablette Fünfteln müssen oder Pflegepersonal das mehrmals täglich tun muss, so gibt es die Möglichkeit aus der 25 mg Tablette eine Kapsel herzustellen. Das ist zulässig. Die Tarife sind in der sogenannten ALT festgelegt. Würde man 20 Kapseln zu 5 mg herstellen aus der 25 mg Tablette, so käme das mit dem zermörsern der Tabletten, dem Sieben des Ganzen, dem „Strecken“ der gemörserten Tablette mit Mannitol und der Befüllung der Kapsel auf ca. 90 Franken zu stehen. Alles ok gerechnet mit ALT Tarifen und hergestellt aus dem zugelassenen Produkt. Jetzt haben wir die Situation, dass wir rund 1000 Betten direkt und rund 200 indirekt versorgen und monatlich ca. 1200 mal eine solche Kapsel brauchen. Sowohl stationär primär in der Psychiatrie aber auch in den Heimen.

Jetzt ist es ja eigentlich vernünftiger sich die Substanz zu besorgen und daraus direkt Kapseln zu machen. Wir lassen uns diese Kapseln durch einen Lohnhersteller in grosser Serie herstellen. Wir verrechnen dann logischerweise nicht den ALT-Preis sondern unseren Einstandspreis und den für diese Preisklasse üblichen Vertriebsanteil.
So kommt die Kapsel auf rund die Hälfte des ALT-Preises. Diese Methode war in meiner fast 30-jährigen Tätigkeit nie ein Problem und ist in der Branche üblich, gerade bei Spezialdosierungen für Kinder und ältere Menschen. Jetzt hat eine Sachbearbeiterin einer kleinen Krankenkasse dies in Frage gestellt. Zuerst hat sie gemeint, dass sie nur zahlen, wenn wir das aus einem zugelassenen Produkt machen würden.
D.h. nach dieser Philosophie würden wir jeden Monat 240 Tabletten zermörsern, sieben, strecken und in Kapseln abfüllen. Total unvernünftig, aber es würde problemlos bezahlt mit 90 Franken pro 20 Kapseln.
Es dauerte ca. 15 Minuten (!) bis sie eingesehen hat, dass das nicht vernünftig ist und hat damit zuerst meine Kollegin und dann mich fast zur Verzweiflung gebracht. Dann ging’s noch einen Schritt weiter. Sie wollte uns eine genaue Kalkulation unseres Lieferanten wie der den Preis berechnet. D.h. Einstandspreis des Wirkstoffes, Arbeit, Amortisation etc. etc.; Sie müsse ja einen Anhaltspunkt haben, welcher Preis gerechtfertigt sei. 
Ich habe ihr nochmals erklärt, dass wir eine Offerte einholen für die Lohnherstellung und dann aufgrund des Fachwissens in etwa abschätzen können ob der Preis realistisch ist oder nicht. Wir brauchen ca. die Hälfte stationär, d.h. das Medikament belastet unser Budget. Deshalb seien wir da durchaus im gleichen Boot. Ich könne ihr die letzten Rechnungen zur Verfügung stellen, nicht aber die detaillierte Kalkulation des Lieferanten, das sei zu mindestens 50% dessen Geschäftsgeheimnis. Wenn wir das künftig machen müssen, dann verlieren wir diese Möglichkeit, weil niemand mehr bereit ist, diese Lohnaufträge anzunehmen. Und ich habe nochmals betont, dass wir das Medikament für rund die Hälfte dessen verrechnen was wir nach ALT könnten. Ich habe ihr dann nahegelegt doch einen Sachverständigen beizuziehen, weil sie Dinge behaupte, die vermuten lasse, dass sie sich noch bessere Kenntnisse unserer Branche aneignen könnte…. ; Meine Nerven waren dort schon über der Belastungsgrenze angelangt, so dass ich am Schluss eher unfreundlich wurde.
Sie hat jetzt das BAG gefragt ob sie oder wir richtig liegen. Wenn sich herausstellen sollte, dass wir das so nicht machen dürften, dann läuft die Berechnung künftig nach ALT. D.h. die Kapseln kosten das Doppelte. Dann gibt es keine halbstündigen Telefone wo es in mehr als der Hälfte der Zeit nur darum geht zu erklären wie die Herstellung in einer Apotheke funktioniert.  Das würde sehr viel in Frage stellen – gerade in der Kindermedizin respektive der Altersmedizin. Und : der Nebeneffekt wären deutlich höhere Kosten als bisher.  Auch hier: So werden Vernünftige in die Unvernunft getrieben…


Ich habe danach selber noch beim BAG nachgefragt und bekam zur Auskunft, dass wir doch einen Antrag stellen sollen, Quetiapin in die AML aufzunehmen…. D.h. das BAG sanktioniert die Haltung der Dame D.h. 5 seitiger Antrag mit klinischen Studien etc. ; und es ist ein Amtstarif …
Ich werden noch zum Wackeldackel, das Kopfschütteln hört kaum mehr auf …

Kosten im Gesundheitswesen – offenbar ziehen nicht alle am gleichen Strick …

Zwei Fälle, die mir stark zu denken geben – Vernunft im System steht sehr weit hinter dem Formalismus. Im Moment bringt fast jede Massnahme die der Bund im Köcher hat (VIT, Art 38a, Referenzpreissystem etc.) noch die letzten Vernünftigen dazu sich dem Kreis der Unvernünftigen anzuschliessen weil der Bund genau solches wie unten beschrieben noch zementiert respektive fördert und verschlimmert. .                                                        

1. Litalir, ein Medikament zur Behandlung unter anderem der chronischen Leukämie ist zur Zeit in der Schweiz nicht lieferbar. Der Publikumspreis in der Schweiz beträgt 102.50 für 100 Kapseln. Das Medikament kann für die Weiterbehandlung der Patienten importiert werden. Der Einstandspreis in Deutschland beträgt 233.89 Franken netto. Die Krankenkasse ist bereit das ausländische Medikament zu zahlen, bezahlt jedoch maximal den schweizer Publikumspreis.  Wer zahlt die Differenz ? Auch wenn die Ärzte resp. Apotheke ihre Arbeit gratis machen würden, so wäre die Differenz über 100.- für eine Monatspackung….Eigentlich dürfte der hier betroffene Patient nicht zusätzlich zur Kasse gebeten werden. D.h. die Differenz bleibt bei jenen, die erreichen wollen dass die Therapie mit Litalir weiter geht.Alternative : Switch auf ein deutlich teureres Medikament. Es gibt solche mit der gleichen Indikation für über rund 2500 Franken … wohlverstanden pro Monat in Dauertherapie. Macht Mehrkosten von knapp 30’000 pro Jahr. Das passiert grad jetzt aktuell mehrfach. Das teurere Medikament ist verfügbar und niemand müsste etwas dazu zahlen….. – Great !!! Man rechne wenn 1000 Patienten jetzt umgestellt würden. Vernünftig ist das nicht..

Und was machen Bund um Kassen ? nichts ! Oder eben Kosten ablehnen, um damit noch höhere Kosten auszulösen. sie haben ja keinen Radar, um festzustellen dass es ein Problem gibt. Da ist eben nicht die Landesversorgung dran – sondern eben der Bereich Krankenversicherung. ich habe einen Radar und finanziere ihn grossmehrheitlich aus dem eigenen Sack. www.Drugshortage.ch

2. Eine Krankenkasse weist die Übernahme der Kosten für eine Chemotherapie mit Oxaliplatin zurück. Begründung : Das eingesetzte Produkt sei nicht auf der Spezialitätenliste.Auf die Spezialitätenliste aufgenommen wird nur, was für eine Therapie eines einzelnen Patienten zweckmässig ist. In diesem Fall die 50 mg und die 100 mg Flaschen. Wir behandeln jedoch oft mehrere Patienten pro Tag respektive das Produkt wird unter sterilen Bedingungen (Reinraum Klasse A) angestochen und kann deshalb wegen seiner chemischen Stabilität weiter verwendet werden. , Deshalb setzen wir in diesem Fall die 200 mg Flaschen ein. Die ist allerdings nicht auf der Spezialitätenliste.Es handelt sich jedoch um das genau gleiche Produkt von der gleichen Firma wie das SL Präparat nur eben in einem grösseren Volumen, das jedoch nicht auf die Spezialitätenliste aufgenommen werden kann, weil die Packung für mehr als einen Patienten reicht und deshalb nicht zweckmässig ist.Soweit so plausibel. Wir haben für die Therapie pro mg 65 Rappen in Rechnung gestellt. Das sind für die konkrete Therapie 150 mg, d.h. 97 Franken.Alle Krankenkassen (mit dieser einen Ausnahme) zahlen die Therapie mit dem Nicht-SL Produkt kommentarlos – immerhin gibt es die sog. „Grand frère Regel“, die allgemein akzeptiert ist. D.h. grössere Packungen werden dann bezahlt, wenn sie die sog. Abstandsregeln einhalten. Was hier längstens erfüllt wird. Die eine Krankenkasse möchte jetzt also, dass wir eine 50 mg Flasche und eine 100 mg Flasche für diese Therapie verwenden.Machen wir gerne und kaufen das extra für diesen einen Patienten ein. Ohne jeglichen Rabatt. Macht dann – haltet Euch fest – 486.- also rund 5 x mehr. Und das alle 14 Tage während 24 Wochen. Als Tüpfchen auf dem i hat die Krankenkasse die 97.- dem Patienten in Rechnung gestellt. Chamemache …. Digitalisierung der Rechnungen heisst ja nicht dass man das Hirn bei Rückweisungen nicht brauchen darf wenn die eigene Software dazu nicht taugt … Die Deppen sind eigentlich wir, weil wir uns selber strafen wenn wir günstiger einkaufen und den Rabatt weitergeben.Immerhin könnten wir mit der Differenz den ersten beschriebenen Fall zahlen…..

Wenn wir uns leisten können solche Dinge wie oben dargestellt anzustellen, nur um der engsten Variante der Formalitäten Genüge zu tun, dann brauchen wir über Sparmassnahmen im Gesundheitswesen nicht zu diskutieren ! Solche Dinge nerven mit gewaltig – gerade wenn sie an ein und demselben Tag passieren !

Staatsversagen

Kolumne Bödeli-Info Nov/Dez 2018

Staatsversagen

Ein Modewort unserer Zeit

Jeder Staat macht Fehler. Ganz entscheidend jedoch ist, ob unsere Demokratie die Fähigkeit hat, aus den Fehlern zu lernen, und ob es uns gelingt, die Probleme als Gemeinschaft zu lösen.

Es ging uns in der Schweiz noch nie so gut wie heute. Deshalb mutet es sehr seltsam an, wie Rechte und Linke unseren Staat schlechtreden. Ein perfektes System gibt es nicht – nirgendwo. Es gibt immer Möglichkeiten, es zu verbessern. Aber man muss dazu bereit sein. Mit der gegenseitigen Blockade gelingt es kaum, aktuelle Probleme zu lösen; das wird dann am Schluss „Staatsversagen“ genannt. Das Staatsversagen ist mittlerweile zum Modebegriff geworden für alles, was nicht optimal funktioniert. Jeder meint an sich etwas anderes, aber eigentlich meinen alle das Gleiche: Der Staat versagt, wenn er nicht genau das macht, was ich mir vorstelle. «Jetzt muss man nicht mehr Kompromisse suchen, sondern zeigen, wo es lang geht; die haben lange genug gewurstelt» heisst das dann am Stammtisch. Selbstverständlich macht jeder Staat Fehler, manchmal auch schlimme. Und selbstverständlich gibt es Probleme bei den Finanzen, bei der sozialen Wohnfahrt, im Asylwesen etc.
Ganz entscheidend jedoch ist, ob unsere Demokratie die Fähigkeit hat, aus den Fehlern zu lernen, und ob es und gelingt, die Probleme als Gemeinschaft zu lösen. Dazu braucht es eine Wertebasis, und die ist in unseren Breitengraden nach wie vor die Vernunft, die Aufklärung sowie die Wissenschaft. Dank dieser Basis leben wir heute länger, gesünder, glücklicher, friedlicher und wohlhabender denn je. Dem Hass, dem Populismus und der Wissenschaftsfeindlichkeit, den Verschwörungstheoretikern dieser Welt gilt es entgegenzutreten. Fakten sollen weiterhin zählen statt Mythen oder Gerüchte. Lösungen sollen über eine sachlich fundierte Diskussion und Argumente gefunden werden und nicht über populistische Schlagworte.
Ist es nicht so, dass häufig als Beweis für das Staatsversagen der Umstand herangezogen wird, dass es Fehler überhaupt gibt? Die Anspruchshaltung an den Staat und die Regierung ist mittlerweile so, dass der Staat alles lösen oder schon gelöst haben muss, bevor das Problem überhaupt entsteht. Laut Joachim Käppner, einem Kommentator der Süddeutschen Zeitung, hat das Wort Staatsversagen seinen Ursprung in den Diktaturen früherer Zeiten, in deren Systemen vorgegeben wurde, was zu akzeptieren ist. Solche Systeme gibt es nach wie vor, und sie sind sie wieder auf dem Vormarsch. Demokratien werden faktisch aufgelöst und die Meinung eines obersten Staatsführers als sakrosankt erklärt. Es gibt solche Beispiele gar nicht weit von uns weg.
Das ist die Rückkehr in einen Zustand, bei dem die gewonnene Freiheit nicht genutzt wird, sondern der Staat gefälligst alle Bedürfnisse erfüllen soll. Das eigene Hirn wird am Eingang abgegeben. Aber der Staat ist keine Fürsorgeanstalt, sondern eine kollektive Einrichtung. Das demokratische Gemeinwesen ist ein freiheitliches Projekt, an dem wir teilhaben und nicht nur davon profitieren, sondern auch unseren Teil zum Gelingen beitragen müssen – und sei es nur mit dem Stimmzettel. Die Stimmbeteiligung von im Schnitt deutlich unter 50% bei Abstimmungen, und in unserer Region nicht einmal 30% bei Wahlen, lässt tief blicken.
Das Staatsversagen als Schuldigen aller Missstände heranzuziehen, ist überheblich und letztendlich Ausdruck eigener Faulheit. Zudem werden die Errungenschaften der Freiheit damit sehr geringgeschätzt. Die Demokratie muss aus der Defensive herauskommen – und das muss sie je länger je mehr und je deutlicher. Ich fordere deshalb eine Mindestquote an Stimmbeteiligung einzuführen, damit ein Resultat überhaupt als gültig erklärt wird. Eine Hürde von 50% ist in vielen Ländern üblich.