Was heisst eigentlich bürgerliche Politik ?

Kolumne Berner Oberländer vom 12.12.2015

Der Begriff des „Bürgerlichen“ wurde geprägt durch den Klassenkampf in den Anfängen des letzten Jahrhunderts und wurde damals als Abgrenzung zwischen Arbeiterklasse und Bürgertum verwendet.
Die „Bürgerlichen“ verstanden sich als Parteien, denen das gute Funktionieren des Staatswesens wichtig war. Insbesondere die BGB hatte in ihrem Parteiprogramm festgelegt, dass die Partei das „Ausbeuter- und Schmarotzertum“ bekämpft und für jede ehrliche Arbeit angemessene Preise und Löhne verlangt „die dem Arbeiter und seiner Familie ein menschenwürdiges Dasein gestattet und dass aufreizende Unterschiede in den Einkommensverhältnissen vermieden werden.“
Die Freisinnigen, die BGB und die Christdemokraten setzten sich für einen sich gut entwickelnden Staat ein, für fortschrittliche Schulen, für hochklassige Universitäten und für die soziale Marktwirtschaft. Sie alle grenzten sich nicht nur gegen linke, sondern auch deutlich gegen rechte Radikalisierungen ab.
Die Positionen der Parteien, die das „urbürgerliche“ Wertesystem vertreten hatten, haben sich laut einer Studie des Politologen Michael Herrmann seit den 70er Jahren deutlich verschoben : Die FDP ist demnach immerhin auf der liberalen Linie geblieben mit einem Hang nach rechts. Die SVP hat bis Mitte der 80er Jahre noch in der Nähe der Mitte politisiert. Heute ist demgegenüber eine deutliche Verschiebung nach rechts und in sehr stark konservativen Positionen festzustellen. Die CVP hat ihre Position in etwa gehalten. Die neu entstandene BDP politisiert gemäss dieser Studie in etwa dort, wo früher die BGB angesiedelt war.
Deshalb ist die Definition dessen was genau „bürgerlich“ bedeutet nicht so klar und eindeutig zu umreissen. In der Folge ist auch nicht klar was genau „unbürgerlich“ ist. Klar ist: mit dem heutigen Links-Rechts-Schema hat die Definition nicht mehr viel zu tun, die Grenze ist unscharf geworden.
Ich habe versucht herauszufinden was die Leute genau unter bürgerlich verstehen. Die Antworten waren sehr verschieden. Sie reichten vom Parteiprogramm der SVP bis zu sehr allgemeinen Positionen. Ein klares Bild habe ich von meiner kleinen Privatumfrage an den Wahlständen nicht bekommen. Auch die Internetrecherche gibt nicht wirklich viele klare Hinweise.
Ich leite für mich den Begriff „bürgerliche Politik“ aus dem ursprünglich gedachten Wertesystem ab: Für mich heisst bürgerliche Politik mit Vernunft und Verantwortung nicht nur für sich selber sondern in erster Linie für das Allgemeinwohl zu politisieren und dabei das gute Gewissen gegenüber der Gesellschaft und kommenden Generationen zu wahren. Denn Freiheit ganz allgemein setzt verantwortungsvolles Handeln zwingend voraus. Die Grenze von eigenverantwortlichem Handeln zur Entsolidarisierung und zum Egoismus liegt dort, wo das gute Gewissen gegenüber der Gesellschaft aufhört. Dazu gehört auch, dass man den gesellschaftlichen und ökologischen Entwicklungen Rechnung trägt und den Blick nach vorne richtet. Solange Einzelpersonen und auch Unternehmen in diesem Sinne verantwortungsvoll und gewissenhaft handeln braucht es auch keine weiteren Regulierungen. In diesem System hat auch die „Klientelenpolitik“ keinen Platz. Für mich ist echte bürgerliche Politik durchaus innovativ und im Grundsatz liberal, wirft jedoch trotzdem konservative Werte nicht ganz über Bord. Das ist für mich glaubwürdige, dem Bürger verpflichtete Politik. Und deshalb politisiere ich dort wo genau diese Werte noch etwas gelten.

Der Link zur Studie von Michael Herrmann : http://blog.tagesanzeiger.ch/datenblog/index.php/1791/wie-sich-die-svp-aus-dem-buergerblock-verabschiedet-hat